Die großen Lücken bei der deutschen Luftverteidigung haben offenbar auch die Bundesregierung auf den Plan gerufen und so hat Bundeskanzler Olaf Scholz bei seiner europapolitischen Rede in der Prager Karls-Universität Ende August umfangreiche Investitionen in diesem Segment angekündigt. Wenige Tage später wurde auch klar, warum das neue von Scholz angekündigte System von Anfang an so ausgelegt werden kann, dass sich auch europäische Nachbarländer auf Wunsch daran beteiligen können: Die Bundeswehr will das Raketenabwehrsystem Arrow in Israel beschaffen, das aufgrund seiner großen Reichweite auch andere Staaten vor ballistischen Raketen schützen kann.
Mit diesem System für die territoriale Flugkörperabwehr wird die Bundeswehr im Rahmen des Sondervermögens Bundeswehr eine neue strategische Fähigkeit erhalten, die überdies einen 360-Grad-Schutz gewährleisten soll. Wie es in Fachkreisen heißt, ist das System dafür ausgelegt, anfliegende Raketen – darunter auch ICBMs – in der so genannten Midcourse-Phase im Weltraum abzufangen. Insbesondere bei der Abwehr von Interkontinentalraketen soll Arrow 3 dem ebenfalls betrachteten US-System THAAD überlegen sein. Allerdings kann der THAAD-Flugkörper sowohl endo- als auch exoatmosphärisch wirken und sein Einsatzhöhenband überlappt laut Hersteller Lockheed Martin mit den Einsatzhöhen von Patriot am unteren und der exoatmosphärisch eingesetzten SM-3-Abfangrakete am oberen Ende. Beobachter vermuten, dass bei Einführung von Arrow 3 in die Bundeswehr zwischen der israelischen Waffe und den Patriot-Effektoren eine Reichweitenlücke bestehen bleibt.
Einbindung in NATO-Luftverteidigung
Für das Arrow-System, das nach Angaben des Bundeswehr-Beschaffungsamtes BAAINBw 2025 verfügbar sein soll, müssen neben den Effektoren des Typs Arrow 3 und Launchern auch das Radar Green Pine Block C, ein Battle Management Center, ein Launching Control Center sowie weitere Komponenten beschafft werden. Darüber hinaus gilt es, das System in die NATO-Luftverteidigungsarchitektur einzubinden. Für die Integration in Deutschland dürfte es nicht von Nachteil sein, dass Elta Systems, die Tochter von Arrow-Hersteller IAI, in Kooperation mit Hensoldt für die Ballistic Missile Defence (BMD) geeignete Radare sowohl für die Fregatten der Klasse 124 als auch für die Stationierung an Land liefern soll.
Israelische Expertise ist also in Deutschland im Augenblick demnach sehr gefragt. Sollten IAI und Lockheed Martin auch die Entwicklung einer Arrow-4-Rakete erfolgreich abschließen, hätte Deutschland womöglich auch hier Bedarf, falls die im Rahmen des europäischen Defence Fund (EDF) finanzierte Entwicklung eines endoatmosphärischen Abfangflugkörpers großer Reichweite nicht die erwarteten Resultate erbringen sollte. Hier hatte sich vor kurzem ein vom spanischen Unternehmen Sener Aeroespacial geführtes Konsortium gegenüber einer Gruppe unter Führung von MBDA Frankreich bei der EDF-Projektauswahl durchgesetzt. Bezahlt werden soll Arrow aus dem 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen der Bundeswehr, wie vergangene Woche auf dem Anwenderforum Rüstung und Nutzung RÜ.NET 2022 in Koblenz deutlich wurde. Auch die anderen großen Luftverteidigungsvorhaben wie das Patriot-Upgrade und der Aufbau des Nah- und Nächstbereichsschutzes sollen aus dem Sondervermögen bestritten werden.
Patriot wird modernisiert
Da nach langem Gezerre das Taktische Luftverteidigungssystem (TLVS) auf Eis gelegt wurde und kaum eine Chance der Umsetzung besteht, will die Bundeswehr in den kommenden Jahren die eingeführten Patriot-Systeme modernisieren, um sie bedrohungsgerecht zu halten. Dabei stellt sich die Frage, ob die zwölf Feuereinheiten ausreichen, um wirksam die Bündnis- und Landesverteidigung zu erfüllen. Das gleiche gilt für die verfügbare Munition, also die Flugkörper. Darüber hinaus hat das eingeführte Radar nur einen eingeschränkten „Blickwinkel“, der bei etwa 120 Grad liegt. Im Rahmen der Patriot-Modernisierung in den USA wurde das LTAMDS-Radar von Raytheon ausgewählt, das einerseits eine größere Reichweite und andererseits eine 360-Grad-Abdeckdung bietet. Auch für die Luftwaffe dürfte dieses Radar von großem Interesse sein.
Vor der Beschaffung steht überdies ein mit Nah- und Nächstbereichsschutz (NNbS) bezeichnetes System, unter anderem für den Schutz mobiler Einrichtungen und der Landstreitkräfte. Seit dem Ende der Heeresflugabwehr vor zehn Jahren besteht hier eine große Fähigkeitslücke. Deshalb sollen die zu beschaffenden NNbS-Staffeln auch mobil sein und in übergeordnete nationale oder internationale Gefechtsstände eingebunden werden können. Die Herausforderung besteht darin für den Begleitschutz ein System zu entwickeln, das in der Fahrt detektieren und launchen kann. Wie es heißt, wird das Heer in Zukunft – so zumindest die Vereinbarung der Inspekteure von Lufwaffe und Heer – die mobilen Einheiten von NNbS betreiben. Das würde nichts anderes als die Wiederauferstehung der Heeresflugabwehr bedeuten – es bleibt abzuwarten, unter welchem Namen. Für die Begleitung der mobilen Truppen soll bekanntlich die bislang als Flugzeugbewaffnung genutzte Iris-T SLS eingesetzt werden. Dabei ist vorgesehen, als Trägerfahrzeug keinen Lkw, sondern ein Fahrzeug der Schutzklasse STANAG 4 zu nutzen. Die Industrie sollte hierfür im Sommer ein Angebot erarbeiten. Bereits genutzt wird die Iris-T SLS für die Luftverteidigung in Schweden auf einem Hägglunds-Kettenfahrgestell. In Norwegen soll der gleiche Flugkörper in Zukunft ebenfalls für die Luftverteidigung verwendet werden. Die Projektleitung hat dort Kongsberg und die Konfiguration sieht einen neu entwickelten Launcher, das Trägerfahrzeug ACSV G5 der deutschen Firme FFG sowie ein Radar des dänischen Unternehmens Weibel vor. Dem Vernehmen nach sollen schon erste Tests gelaufen sein.
Großer Forderungskatalog für NNbS
Bei der Bundeswehr ist für die Abwehr auf größere Reichweiten im Rahmen von NNbS die Iris-T SL vorgesehen, die im Gegensatz zur kleineren Schwester aus dem Stand gelauncht werden soll. Das BAAINBw geht davon aus, dass für NNbS trotz der Nutzung marktverfügbarer und zum Teil für den Export vorgesehener Produkte weiterhin ein mehrjähriger Entwicklungszeitraum erforderlich ist, wohl nicht zuletzt, weil der Forderungskatalog 5.000 Positionen umfasst. Als herausfordernd gelten aufgrund der verschiedenen Komponenten die Schnittstellen sowie die Anbindung an die übergeordneten Gefechtsstände. Es wird im Augenblick davon ausgegangen, dass die Entwicklung des gesamten Waffensystems bis zum zweiten Quartal 2025 dauern wird. Danach soll sich eine etwa zwölfmonatige Erprobungs- und Abnahmephase anschließen, damit ab 2026 die Auslieferung der ersten Systeme für die Anfangsbefähigung erfolgen kann. Die Fähigkeitslücke im Nahbereich soll im Jahr 2027 geschlossen werden, da es sich laut BAAINBw um Komponenten handelt, die bereits exportiert werden.
Wie an dieser Stelle bereits berichtet, handelt es sich bei dem Export um ein System, das unter anderem aus Iris-T SL von Diehl, Radar von Hensoldt und Battle Managment System von Airbus und bereits nach Ägypten geliefert und dort abgenommen wurde. Dieses System hat Bundeskanzler Scholz der Ukraine zum Schutz einer Großstadt versprochen und könnte womöglich noch in diesem Jahr geliefert werden. Es dürfte dann unmittelbar in den scharfen Einsatz zur Abwehr russischer Angriffe gehen, was die Einbindung in die ukrainische Luftverteidigungsarchitektur und das Luftlagebild erforderlich macht.
Deutschland dagegen will offenbar alle 5.000 Forderungen in tradierter gemütlicher Weise abarbeiten, während in Europa ein das NATO-Bündnisgebiet bedrohender Krieg tobt und die Bundeswehr ein riesiges Defizit in dem Bereich aufweist. Dagegen soll die Anfangsbefähigung für das System Arrow – eine Technologie, mit der man hierzulande keinerlei Erfahrung und offenbar auch noch keine vertieften Informationen hat – bereits 2025 gegeben sein. Eine bemerkenswerte Zeit- und Prioritätenplanung.
lah/3.9.2022