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10×10-Radhaubitze: Artillery Gun Module auf Piranha-IV-Plattform

Waldemar Geiger

Dass KNDS Deutschland und General Dynamics European Land Systems (GDELS) an einer Integration des aus der RCH 155 bekannten Artillery Gun Module (AGM) auf eine Plattform des Typs Piranha IV arbeiten, ist bereits seit Sommer 2022 bekannt. Ein 1:10 Modell des Artillery Gun Module auf einer Piranha-8×8-Plattform wurde im Rahmen der Eurosatory 2022 in Paris auf dem GDELS-Stand ausgestellt.

Ende Mai 2023 wurde dann ein weiteres Puzzle-Stück der 10×10-Radhaubitze öffentlich, nachdem ein Bild auf der Plattform X publiziert wurde, welches einen Ausschnitt eines Flyers dieses Artilleriesystems zeigt. Neben einer Abbildung des Waffensystems sind dort zudem einzelne Fähigkeiten des Systems beschrieben.

Am 11. April 2024 sind dann erste Bilder der 10×10-AGM-Radhaubitze wiederum auf der Plattform X veröffentlicht worden. Auf einem der Bilder ist das System während der Fahrt in einer Winterlandschaft zu sehen.


Ergänzung: Ein aufmerksamer Leser hat uns darauf aufmerksam gemacht, dass das im Schnee geschossene Foto der 10×10-Radhaubitze bereits am 2. März 2024 durch Roger Noti in der Facebook-Gruppe „Fahrzeuge der Schweizer Armee“ veröffentlicht wurde.

Auf dem zweiten Bild ist es auf einem Parkplatz einer Schweizer Garnison in Thun zu sehen. Zudem ist auf dem zweiten Bild erkennbar, dass das Fahrzeug offenbar über drei Luken verfügt. Hinter der Fahrerluke sind sichtbar zwei weitere sechseckige Luken geöffnet. Dies könnte darauf hinweisen, dass die Besatzung des 10×10-Systems aus drei Soldaten besteht, im Gegensatz zur RCH 155 Radhaubitze, die lediglich über Kraftfahrer und Kommandant verfügt.

Hintergrund dieser Kombination aus KNDS Artillery Gun Module und GDELS Piranha-IV-Plattform ist offenkundig die aktuelle Suche der Schweizer Armee nach einer Radhaubitze, auch wenn weder KNDS noch GDELS auf Nachfrage Stellung zu den Bildern nehmen wollten. Die Schweiz beabsichtigt im Rahmen des Projekts „Artillerie Wirkplattform und Wirkmittel 2026“, ein zukünftiges Rohrartilleriesystem zu beschaffen, um die seit Jahrzehnten in Nutzung befindlichen Panzerhaubitzen vom Typ M109 KAWEST abzulösen. Das neue System soll in der Lage sein, eine indirekte Feuerunterstützung auf Distanzen von bis zu 50 Kilometern sicherzustellen.

Die Schweizer Rüstungsbehörde armasuisse hat in diesem Zusammenhang Anfang August 2023 eine Shortlist von zwei verbliebenen Kandidaten veröffentlicht, die die M109 Nachfolger ablösen könnten. Betrachtet werden das Artilleriesystem Archer auf Basis eines 8×8-Lkw-Fahrgestells (der normale Archer ist ein 6X6) von BAE Systems Bofors AB aus Schweden sowie das Artillery Gun Module (AGM) von KNDS Deutschland, ehemals Krauss-Maffei Wegmann. Interessanterweise schrieb die armasuisse, dass das AGM mit „zwei möglichen Trägerplattformen (Boxer 8×8 / Piranha 8×8)“ evaluiert wird. Weiterhin gab die armasuisse bekannt, dass die in Betracht kommenden Systeme anhand von funktionsfähigen Prototypen evaluiert werden. „Diese Abklärungen und Versuche sind für die Jahre 2023 und 2024 im In- und Ausland geplant“, hieß es dazu in der Veröffentlichung der armasuisse.

Weshalb KNDS und GDELS letztendlich auf eine 10×10-Plattform umgeschwenkt sind, ist unklar. Zudem ist nicht bekannt, ob die Boxer-Plattform überhaupt ins Rennen geschickt wurde. Beobachter sahen die Piranha-Plattform von Anfang an im Vorteil, da diese bereits in der Schweizer Armee eingeführt ist und somit keine zusätzliche logistische Kette eingerichtet werden müsste.

Die Gründe für die Wahl der „größeren“ Plattform könnten sowohl technischer als auch taktischer Natur sein. Die zusätzliche Achse bietet schließlich mehr Platz für einen größeren Kampfraum und erlaubt zudem ein größeres Gesamtgewicht des Fahrzeuges. Da der Piranha IV ursprünglich für die Bedürfnisse der Schweizer Armee entwickelt wurde, ist das Fahrzeug gegenüber dem Boxer oder dem Piranha V kompakter ausgelegt.

 Piranha IV 8×8Piranha V 8×8Boxer 8×8
Länge7,24 m8,00 m7,93 m
Breite2,80 m2,99 m2,99 m
Höhe2,20 m2,34 m2,38 m
max. Gewicht30 t33 t36,5 – 38,5 t

Die fünfte Achse dürfte es dem Fahrzeug zudem ermöglichen, besser mit den beim Feuern auftretenden Kräften umgehen zu können. Wie aus dem Bildausschnitt des Flyers ersichtlich ist, kann die 10×10-AGM-Radhaubitze genauso wie die RCH 155 auf Basis des Boxers in einem 360-Grad-Radius, auch während der Fahrt, wirken. Nach früheren KNDS-Aussagen bezüglich der RCH 155 können beim Schießen mit voller Ladung Rückstoßkräfte von bis zu 60 t auftreten. Die RCH 155 ist so ausgelegt, dass sie im kompletten Wirk- und Richtbereich mit der höchsten Ladung uneingeschränkt schießen kann. Da beide Radhaubitzen mit dem AGM das gleiche Artilleriesystem nutzen, muss folglich auch die Piranha-Variante mit den gleichen Kräften umgehen können.

Piranha IV 10×10

Die Piranha-IV-Plattform ist eine Eigenentwicklung der Schweizer Mowag GmbH, welche 2004 vom US-Rüstungskonzern General Dynamics übernommen und in die GDELS eingegliedert wurde. Der Prototyp wurde 2001 erstmals öffentlich vorgestellt, die Serienfertigung begann rund 20 Jahre später. Seit 2024 befindet sich das Fahrzeug in der Nutzung der Schweizer Armee, welche GDELS mit der Herstellung und Lieferung von 132 Piranha IV, 48 in der Variante Mörserträger sowie 84 in der Variante Pionierpanzer, beauftragt hat.

Auch wenn GDELS sich nicht zu der Radhaubitzenvariante des Piranha IV äußern wollte, hat das Unternehmen gegenüber hartpunkt bestätigt, dass man eine sogenannte Heavy Mission Carrier Variante der Piranha-IV-Plattform entwickelt hat. Das zulässige Gesamtgewicht der 10×10-Plattform beträgt bis zu 40 t, 17 t davon stehen als Nutzlast zur Verfügung. Alle zehn Räder verfügen über einen Antrieb, die Achsen eins, zwei, vier und fünf sind gelenkt. „Die Auslegung stellt minimale Achslasten in Einklang mit dem europäischen Straßenverkehrsrecht, überragende Geländegängigkeit und Grabenüberschreitfähigkeit, sowie einen auf weniger als 18 Meter reduzierten Wendekreis sicher“, so ein GDELS-Sprecher gegenüber hartpunkt.

Für GDELS ist die Konstruktion und Produktion einer 10×10-Radpanzerplattform kein Novum, da die Piranha-Fahrzeugfamilie sehr modular ausgelegt ist. So hat der Hersteller in den Vorgängergenerationen des Piranha Gefechtsfahrzeuge in 4×4-, 6×6-, 8×8- sowie 10×10-Ausführungen hergestellt. So wurde beispielsweise eine 10×10-Variante des Piranha IIIC in geringen Stückzahlen für die schwedischen Streitkräfte hergestellt, die die Plattform für einen Gefechtsstandpanzer sowie einen Radarträger ausgewählt haben.

Artillery Gun Module

Das Artillery Gun Module ist ein in Serienproduktion befindlicher, vollautomatischer Geschützturm mit einer aus der Panzerhaubitze 2000 bekannten 155 mm/L52-Waffenanlage von Rheinmetall. Deutschland hat im Rahmen der militärischen Unterstützungsleistung der Ukraine KNDS mit der Herstellung und Lieferung von 36 RCH 155 Radhaubitzen (AGM auf Boxer) beauftragt. Zudem plant auch die Bundeswehr, über 160 dieser Radhaubitzen zu beschaffen, die Einleitung der Beschaffung wird gut informierten Kreisen zufolge noch in diesem Jahr erwartet.

Das Geschützmodul wurde von KNDS plattformunabhängig konzipiert. Vorausgesetzt, dass die geforderten Ansprüche des Geschützes in puncto Traglast und Stabilität erfüllt werden, kann das AGM theoretisch auf jede denkbare Plattform integriert werden. Gemäß den Aussagen des Herstellers treten wie gesagt beim AGM Rückstoßkräfte von bis zu 60 Tonnen (höchste Ladung) auf. Diese müssen durch die Plattform aufgenommen werden (auch während der Bewegung), ohne dass das Fahrgestell über Gebühr beansprucht wird oder die Präzision darunter leidet.

Vorgängerversionen des Systems wurden bereits vor über zehn Jahren, sowohl auf Basis eines aus dem Raketenartilleriesystem MARS bekannten Kettenfahrgestells, als auch auf einem 8×8-LKW-Fahrgestell von Iveco gezeigt. Das Grundkonzept des modernen Artilleriesystems hat KNDS bereits vor mehreren Jahren entwickelt. Bei der 2021 vorgestellten Haubitze auf Basis des Boxers handelt es sich aber um eine neue Version des Systems. Der maßgebliche optische Unterschied der neuen Version ist ein deutlich niedrigerer Waffenturm. Die niedrigere Silhouette ermöglicht einen einfacheren Bahntransport. Darüber hinaus ist auch eine Lufttransportfähigkeit im A400M – zumindest bei der Boxervariante – gegeben, dazu muss das Geschütz- / Missionsmodul, wie bei den anderen Boxerversionen auch, separat von Fahrzeugmodul transportiert werden.

In der Radhaubitzenvariante sowohl auf Basis des Boxers, als auch scheinbar auf Basis des Piranha 10×10, ist das AGM so ausgelegt, dass sie im kompletten Wirk- und Richtbereich mit der höchsten Ladung uneingeschränkt schießen kann. Die Fähigkeit zum Feuern aus der Bewegung ist einzigartig auf der Welt und wurde seitens der KNDS-Ingenieure aus der Funktionsweise von Stabilisierungsanlagen, wie sie in Kampf- und Schützenpanzern verwendet werden, abgeleitet. Dabei kalkuliert ein Rechner ständig die aktuelle Lage des Fahrzeuges und des Rohres. Weicht die Rohrrichtung vom errechneten Zielpunkt ab, wird nachgesteuert. Nur wenn die Waffe exakt auf das Ziel gerichtet ist, löst der Rechner den Schuss aus.

Die Besatzung ist dafür verantwortlich, dem System nur dann einen Feuerauftrag zu erteilen, wenn in unmittelbarer Nähe keine Hindernisse sind, die die Flugbahn der Granate behindern könnten. Dabei wird die Besatzung z.B. in der Variante der RCH 155 für die Ukraine durch das von Hensoldt entwickelte 360-Grand-Rundumsichtsystem Setas unterstützt. Setas ermöglicht der Besatzung eine effektive Nahfeldbeobachtung. Hindernisse, Bedrohungen und andere Gefahren können schnell erkannt und Gegenmaßnahmen eingeleitet werden. Dies entlastet nicht nur die Besatzung, sondern trägt auch zu deren Überlebensfähigkeit in Duellsituationen bei.

Die Feuergeschwindigkeit des AGM beträgt mehr als acht Schuss pro Minute. In das AGM wurde ein vollautomatisches Ladesystem für Geschosse und modulare Treibladungen integriert. Die Zünder werden im Ladevorgang induktiv programmiert, die Waffenanlage elektrisch gerichtet. Die Kampfbeladung besteht aus maximal 30 bezünderten Geschossen und 144 modularen Treibladungen und damit rund 50 Prozent mehr, als es typische, auf LKW basierte und im Einsatz befindliche Artilleriesysteme haben. Der Feuerkampf wird durch einen Feuerleitrechner mit integriertem Ballistikrechner und Datenfunk-Anbindung zu einem Artillerieführungssystem unterstützt, der auf eine hochgenaue Navigationsanlage, mit oder ohne GPS-Unterstützung, zurückgreift. Der Turm kann ohne Fahrzeugabstützung um 360 Grad gedreht werden. Die Elevation des Rohres von -2,5 bis 65 Grad erlaubt den Feuerkampf sowohl auf große Entfernung als auch im direkten Richten auf nahe Ziele.

Mit einer Waffenstation ausgerüstete AGM verfügen zudem über eine sogenannte Hunter-Killer-Fähigkeit. Diese dient der Selbstverteidigung. Sie ermöglicht es der Besatzung, in Duellsituationen parallel erkannte Ziele zu bekämpfen und weitere, das Fahrzeug bedrohende Ziele aufzuklären. Während das Fahrzeug automatisiert eine vorher aufgeklärte Bedrohung bekämpft, kann der Kommandant bereits weitere Gegner aufklären und die Bekämpfung einleiten. Es sei hier jedoch angemerkt, dass die auf dem Flyer abgebildete Piranha-Radhaubitze mit einer Waffenstation versehen ist, auf den jüngst veröffentlichten Bildern ist das Artilleriesystem hingegen ohne eine Waffenstation zu sehen.

Eine Radhaubitze auf Basis des AGM kommt aufgrund des hohen Automatisierungsgrades mit einer zweiköpfigen Besatzung, dem Kommandanten und dem Kraftfahrer/ Systembediener, aus. In der RCH-155-Variante mit Setas kann der Kommandant über die Optronik der integrierten fernbedienbaren Waffenstation und des Setas potenzielle Ziele und Gefahren im gesamten Sichtbereich aufklären und im Bedarfsfall eine Zielauffassung vornehmen. Ist ein potenzielles Ziel aufgeklärt betätigt der Kommandant auf Knopfdruck den Einsatz der Artilleriekanone, der Rest erfolgt automatisiert. Das System richtet, lädt und feuert selbstständig. Wenn notwendig, kann der Kommandant in der Zwischenzeit mit der Waffenanlage der Waffenstation den Feuerkampf aufnehmen und das Ziel niederhalten, blenden oder weitere Ziele für Folgeschüsse aufklären.

Waldemar Geiger

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