ARGE-Partner zeigen Flugabwehrraketenpanzer

Die Landstreitkräfte der Bundeswehr können im Augenblick auf dem Marsch und im Gefecht nicht wirksam gegen Bedrohungen aus der Luft geschützt werden. Denn seit der Außerdienststellung der Heeresflugabwehr mit den Systemen Gepard und Roland vor rund einer Dekade klafft hier eine große Fähigkeitslücke. Diese soll durch das Vorhaben Luftverteidigungssystem Nah- und Nächstbereichsschutz (NNbS) geschlossen werden.

Vor dem Hintergrund zahlreicher gegenwärtig konkurrierender Rüstungsvorhaben, Projektverzögerungen in der Vergangenheit sowie des Krieges in der Ukraine hoffen die drei seit 2021 in der ARGE NNbS zusammengeschlossenen Partner Diehl Defence, Rheinmetall Electronics und Hensoldt Sensors auf eine vollumfängliche und zeitnahe Beschaffung des Luftverteidigungssystems. Wie Vertreter der drei Unternehmen Mitte dieser Woche bei einem Pressegespräch in Bonn ausführten, geht es ihnen darum sicherzustellen, dass die deutschen Soldaten und Soldatinnen im Einsatz einen bestmöglichen Schutz gegen Bedrohungen aus der Luft erhalten.

Andree Hornhardt, Programm-Manager in der Business Unit Integrated Electronic Solutions bei Rheinmetall, unterstrich bei der Veranstaltung überdies, dass es sich bei NNbS um eine modulare und vernetzte Luftverteidigungslösung handelt, die in die integrierte Luftverteidigung und Flugkörperabwehr der NATO eingebunden werden kann. Überdies würden damit die existierenden Systeme MANTIS und LeFlaSys integriert.

Dagegen stellen nicht interoperable Systeme für den Rheinmetall-Manager lediglich Insellösungen dar, die die Anforderungen der Bundeswehr nicht erfüllten und auch keinen ausreichenden Schutz gewähren könnten. Offenbar gibt es Befürchtungen, dass womöglich israelische Anbieter beim Schutz der Landstreitkräfte zum Zuge kommen könnten. So hatte der israelische Premierminister Jair Lapid bei seinem Besuch in Berlin vor wenigen Wochen die Bereitschaft bekundet, Deutschland beim Ausbau der Luftverteidigung zu unterstützen. Das Verteidigungsministerium prüft gegenwärtig die Beschaffung des israelischen Raketenabwehrsystems Arrow 3, das allerdings außerhalb der Atmosphäre wirkt.

Die ARGE sei in der Lage, die rund 4.000 für NNbS gestellten Forderungen risikoarm und zulassungsfähig zu erfüllen, sagte Hornhardt. Er wies darauf hin, dass neben den drei ARGE-Partnern wesentliche Zulieferungen von den deutschen Unternehmen Airbus Defence and Space, Rohde & Schwarz sowie MBDA kommen. So wird das Battle Management System für NNbS von Airbus bereitgestellt, womit eine problemlose Einbindung in die deutsche Führungsstruktur sowie eine Anbindung an die NATO Integrated Air and Missile Defence möglich sein soll.

Angebot liegt vor

Wie bereits berichtet, haben die drei ARGE-Partner mittlerweile auch ihr Gesamt-Angebot für NNbS abgegeben, so dass jetzt eine Verhandlungsphase folgen kann. Details zum weiteren Vorgehen wurden mit Verweis auf das laufende Verfahren auf der Veranstaltung jedoch nicht genannt.

Gefordert ist im Teilprojekt 1 von NNbS die Lieferung von zunächst vier Flugabwehrraketenstaffeln. Wobei eine Staffel aus einem Mix von Boden-Luft-Raketen der Typen Iris-T SLM (Surface Launched Medium Range) sowie Iris-T SLS (Surface Launche Short Range) von Diehl bestehen. Dazu kommt unter anderem ein Hensoldt-Radar des Typs TRML-4D sowie mobile Führungs- und Logistikkomponenten.

Den Planungen der Luftwaffe zufolge soll die für die Kurzstrecke vorgesehene Iris-T SLS auf einem Radfahrzeug installiert werden, so dass die mobilen Einheiten der Landstreitkräfte begleitet werden können. Darüber hinaus wird gefordert, dass die Lenkwaffe aus der Fahrt verschossen werden kann. Im Augenblick scheinen zwei Fahrzeugplattformen zur Auswahl zu stellen: Entweder ein Eagle 6X6 von GDLS sowie ein Transportpanzer Boxer. Während ursprünglich nur eine Konfiguration mit einem Lkw als Trägerfahrzeug geplant war, wurde offenbar nach Start des Ukraine-Kriegs die Forderung nach einem Flugabwehrraketenpanzer aufgestellt, der über eine höhere Schutzklasse verfügt.

Die Lösung mit dem Eagle, der vier Flugkörper sowie die für den Einsatz notwendige Sensorik tragen kann, hatte Diehl bereits auf der Rüstungsmesse Eurosatory im Sommer in Paris vorgestellt. Dabei werden die Flugkörper aus festen Startvorrichtungen, die im hinteren Aufbau des Fahrzeugs integriert sind, abgeschossen.

Neues Konzept mit Boxer

Bei der Veranstaltung in Bonn wurde erstmals das Konzept auf Basis des Boxers gezeigt. Hierbei wird ein drehbarer Turm verwendet, an dessen Seiten jeweils zwei offenbar höhenrichtbare Werfer angebracht sind, die je einen Lenkflugkörper enthalten. Darüber hinaus ist der Turm mit festen Radarpanelen, einer drehenden Antenne sowie elektro-optischen Einrichtungen ausgestattet.  Es wird jedoch offenbar auch die Möglichkeit eines Turmkonzeptes mit insgesamt sechs Werfern betrachtet.

Abzuwarten bleibt, ob der Luftverteidigungsboxer für den Sektorschutz oder eine Rundumabsicherung vorgesehen wird. Im letzteren Fall müssen deutlich mehr Radar-Panel, bei denen es sich um Spexer 3D von Hensoldt handeln soll, installiert werden, was die Kosten in die Höhe treibt. Bei der in der Mitte des Turms auszumachenden drehenden Antenne soll es sich um ein Radar zur Freund-Feind-Identifizierung handeln. Als Herausforderung wird in Fachkreisen die Forderung der Bundeswehr gesehen, dass das Radar des Iris-T-Trägerfahrzeugs auch während der Fahrt funktionieren soll. Dies dürfte eine elektronische Radar-Stabilisierung erforderlich machen. Hierfür müsste offenbar noch eine Lösung gefunden werden, was allerdings als machbar gilt.

Wie die Vertreter der ARGE betonten, kann ihr NNbS-Konzept aufgrund der Modularität durch weitere Elemente ergänzt werden. Etwa durch ein Passiv-Radar. Gefordert sei dies im Augenblick jedoch noch nicht, sagte ein Hensoldt-Vertreter auf Nachfrage.

Hensoldt bietet bekanntlich ein solches Passiv-Radar mit der Bezeichnung Twinvis an. Ein weiterer renommierter Anbieter von passiver Sensorik – wenn auch mit einem anderen technischen Konzept – ist das tschechische Unternehmen Era, das unter anderem den Sensor Vera-NG im Portfolio hat. (Siehe dazu auch: https://www.hartpunkt.de/fuer-tschechische-era-existieren-keine-stealth-flugzeuge/). Beobachter gehen davon aus, dass in Zukunft eine Boden-Luft-Flugkörper aufgrund von Dateninformationen eines passiven Sensors gestartet werden und erst während des Flugs ein aktives Radar zur finalen Feuerleitung eingeschaltet werden könnte. Dies hätte den Vorteil, dass potenzieller Gegner die eigene Stellung deutlich später detektieren können, was die Überlebenswahrscheinlichkeit erhöht.

Wichtig ist die Modularität bei NNbS unter anderem, weil im Teilprojekt 2 des Vorhabens weitere Fähigkeiten und Effektoren hinzugefügt werden sollen. Etwa um eine Abwehr Mörsergranaten, Artillerieraketen und Drohnen zu ermöglichen. Hier wird unter anderem an die Nutzung von Lasern gedacht. Ebenfalls dürfte eine Lösung mit einer Kanonenbewaffnung in Frage kommen. Die Sensorik für diese Aufgaben ist schon im Teilprojekt 1 enthalten. Was fehlt, sind die Effektoren.

Iris-T SLX in der Entwicklung

Womöglich bietet das NNbS-Konzept noch mehr Potenzial. Denn wie aus einer Diehl-Pressemitteilung vom Frühjahr hervorgeht, arbeitet das Unternehmen gegenwärtig zusammen mit Hensoldt an einer Leistungssteigerung des bestehenden Iris-T-SLM-Systems zur Iris-T SLX. Mit dieser neuen Waffe soll eine Reichweite von bis zu 80 Kilometern und eine Höhenabdeckung von bis zu 30 Kilometern erreicht werden. Könnte für die Feuerleitung der Iris-T SLX das für NNbS ohnehin vorgesehene Hensoldt-Radar genutzt werden, würde dies einen deutlichen Leistungssprung von NNbS ermöglichen, der das System leistungsmäßig in Richtung Patriot bringen dürfte.

Sollte Diehl es überdies schaffen, die Iris-T SLX so zu entwickeln, dass sie in den Startkanister ihrer kleineren SLM-Schwester passt, wäre bei NNbS eine Mischbewaffnung denkbar, was eine deutlich höhere Flexibilität mit sich bringt.

Beobachter vermuten, dass Diehl eine solche Iris-T SLX – sollte die Entwicklung erfolgreich verlaufen – auch für die Nutzung auf einem Kriegsschiff auslegen könnte. Dabei würde sich anbieten, die Lenkwaffe auf Schiffen zu installieren, die über das Hensoldt-Radar TRS-4D verfügen – dem maritimen Gegenstück des TRL-4D, das zwar im Einsatz bei der deutschen Marine nicht rotiert, aber sonst im Wesentlichen baugleich sein soll. Hier fällt der Blick zwangsläufig auf die Fregatte F125, die aufgrund ihrer schwächlichen Bewaffnung gegen Flugziele auch schon mal als überschwerer Polizeikreuzer tituliert wird, aber auf dem Vordeck über einen Sportraum verfügt, der einmal für die Einrüstung von Lenkwaffen vorgesehen war.

Zwar handelt es sich hinsichtlich der zukünftigen Verwendung von Iris-T SLX noch um Spekulationen, jedoch hat Diehl bereits bei einem anderen Projekt deutlich gemacht, dass der Konzern bei einer Neuentwicklung sofort auch an eine maritime Anwendung denkt. So soll der im Rahmen eines EDF-Projektes zu entwickelnde Hyperschallabwehrflugkörper Iris-T HYDEF sowohl für den Verschuss von Land als auch von See vorgesehen werden, wie das Unternehmen kürzlich auf dem DWT-Marineworkshop in Linstow dargestellt hat.
lah/7.10.2022

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