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BMVg weist Sofortmaßnahmen für die Industrie an

Der Ukraine-Krieg und Deutschlands Kehrtwende in der Verteidigungspolitik vom Wochenende kommen jetzt mit Wucht bei der lange als Schmuddelkind behandelten Rüstungsindustrie an. So fordert das Bundesverteidigungsministerium die deutsche Industrie zur kurzfristigen Bereitstellung von Rüstungsgütern sowohl für die sofortige Lieferung in die Ukraine und an NATO-Partner, als auch zur Ausstattung der Bundeswehr auf.

Dabei geht es auch darum, auf Bundeswehr-Beständen abgegebene Ausrüstung schnellstmöglich zu ersetzen, wie aus Industriekreisen zu vernehmen ist. Erst vor wenigen Tagen hatte die Bundesregierung angekündigt, 500 Stinger-Raketen und 1.000 Panzerabwehrwaffen an die von Russland überfallene Ukraine zu liefern.

Die Not ist offenbar sogar so groß, das Unternehmen prüfen sollen, ob sie für den Export bestimmtes Rüstungsmaterial kurzerhand für diese Zwecke umwidmen können. Die Finanzierung für die Maßnahme kann offenbar über den neuen Krisenfonds der EU in Höhe von 500 Millionen Euro erfolgen.

Nach den Informationen aus Industriekreisen hat der Abteilungsleiter Rüstung im BMVg, Vizeadmiral Carsten Stawitzki, überdies angewiesen, dass mit Hochdruck Lieferungen und Leistungen zur schnellstmöglichen Erhöhung der Gefechtsbereitschaft der Bundeswehr erfolgen sollen. Um die Verfügbarkeit der eigenen Hauptwaffensysteme kurzfristig zu erhöhen, sollen Instand- und Inbetriebssetzungsarbeiten vorgezogen, die laufende Instandhaltung beschleunigt sowie Ersatzteile, Hilfs- und Betriebsstoffe sofort bereitgestellt werden.

Um Waffensysteme möglichst lange in Betrieb halten zu können, sollen nach den Vorstellungen des Ministeriums Pufferlager für das benötigte Material aufgebaut und das Verlängern von Wartungsintervallen geprüft werden.

Zur möglichst zügigen Ertüchtigung der Bundeswehr im Rahmen der von Bundeskanzler Olaf Scholz angekündigten 100 Milliarden EUR für Rüstung sollen Beschaffungen auf mittlere und längere Sicht ebenfalls beschleunigt werden. Dazu soll die Industrie Vorschläge machen, wie über  Optionen oder Auftragsveränderungen bestehende Verträge höher ausgeschöpft werden können. Ebenfalls soll sie prüfen,  wie verstärkte Abrufe aus bestehenden Rahmenvereinbarungen und die Auslösung von Optionen realisierbar sind. Darüber hinaus sollen die Firmen weitere eigne Vorschläge zur Beschleunigung  der Bundeswehr-Aufrüstung machen. In der zukünftigen Beschaffung soll vorzugsweise – aber nicht ausschließlich – auf marktverfügbare Lösungen zurückgegriffen werden, wie es heißt.

Das Verteidigungsministerium erwartet den Angaben zufolge von der Industrie eine Erhöhung der Fertigungskapazitäten durch den Aufbau des Personalbestandes und der Infrastruktur und ist bereit, alle vergaberechtlichen Flexibilitäten auszuschöpfen. Den Industriekreisen zufolge „erwartet“ das Ministerium überdies, dass bis Ende der laufenden Woche alle Rügen gegen Vergabeentscheidungen zurückgenommen oder durch einen Vergleich erledigt werden. Die dramatische Lage an der Ostflanke der NATO und der Krieg in der Ukraine lässt offenbar das möglich werden, was bis Anfang vergangener Woche noch undenkbar war.

Industrie prüft Möglichkeiten

Dem Vernehmen nach hat die Industrie auch damit begonnen, die eigenen Bestände nach lieferbarem Material zu durchforsten. Allerdings scheint noch nicht klar zu sein, was das BMVg tatsächlich ordern wird. Nach Aussage eines Hensoldt-Sprechers, könnte bei Bedarf die Produktion im Radarbereich ausgeweitet werden und zum Teil auch aus der laufenden Serienproduktion Lieferungen erfolgen. Etwa bei Systemen wie dem Land-Radar TRML-4D, dem Spexer oder dem Passivradar Twinvis. Auch bei Sichtsystemen, wie Nachtsichtgeräten, Zielfernrohren oder Panzerperiskopen sei eine Erhöhung des Ausstoßes denkbar.  Dem Sprecher des Sensor-Konzerns zufolge könnte dies womöglich durch eine Ausweitung des Schichtbetriebs erfolgen und die Nutzung von Niederlassungen im Ausland. So verfügt Hensoldt unter anderem über Fertigungsstätten in Großbritannien und Südafrika.

Das Problem ist grundsätzlich, dass in der Regel nur nach Auftragserteilung produziert wird, wie ein deutscher Thales-Sprecher erläuterte. Deshalb verfügen Unternehmen nicht über Läger mit Fertigprodukten. Außerdem sei man auf Zulieferer angewiesen, die erst beauftragt werden müssten. Der Sprecher geht deshalb davon aus, dass sein Unternehmen am schnellsten Bodenüberwachungsradare und Optiken liefern könnte.

Insider rechnen damit, dass es noch ein paar Tage braucht, bis klar ist, was genau geliefert werden kann und auch, was benötigt wird. Die Ukraine dürfte im Augenblick jegliche Militärausrüstung übernehmen, die ohne großen Ausbildungsaufwand einsetzbar ist.

Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, fordert unter anderem die Lieferung von stationären Luftverteidigungssystemen aus Deutschland. „Deutschland liefert diese Systeme nach Ägypten, also warum nicht an uns?“, sagte er in einem Interview. Der Botschafter bezieht sich dabei offenbar auf ein Geschäft mit dem nordafrikanischen Staat, bei dem Diehl Defence als Generalunternehmer fungiert, während wichtige weitere Komponenten von Hensoldt und Airbus kommen. Dem Vernehmen nach steht die Auslieferung kurz bevor.  In der Konfiguration ähnelt das System sehr stark den Konzepten, die für den Nah- und Nächstbereichsschutz der Bundeswehr vorgeschlagen wurden.  Daran dürfte vermutlich auch das deutsche Heer Interesse haben, da es im Bereich Flugabwehr über keine Fähigkeiten mehr verfügt. Allerdings müsste Ägypten dafür zunächst von seinem Vertrag zurücktreten. Ob dies erwogen wird, ist augenblicklich unklare. Ein Diehl-Sprecher stand kurzfristig nicht zur Verfügung.
lah/1.3.2022

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