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Sehen und gesehen werden: Das gläserne Gefechtsfeld als Revolution in der Kriegsführung

Gastbeitrag von Matthias Lehna und Paul Strobel

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Disruptive Entwicklungen zeichnen sich oft durch ein Merkmal aus: Sie werden erst im Rückblick als solche erkannt. Zusammenhänge, die in der Retrospektive offensichtlich erscheinen, werden von Zeitzeugen nicht als zusammenhängend betrachtet. Eine Revolution ist somit nicht immer sofort wahrnehmbar oder wird verkannt.

In der Ukraine lässt sich dieses Phänomen erneut beobachten. Jene Militäranalysten, die bis zum 24. Februar 2022 den Standpunkt vertraten, dass die Ukraine nicht lange gegen die übermächtige russische Invasionsmacht bestehen könne, wurden eines besseren belehrt. Die ukrainische Armee schafft es bis heute, einen über tausend Kilometer langen Frontabschnitt im dritten Kriegsjahr zu halten und erfolgreich zu verteidigen.

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Die Antwort auf die Frage, wie diese unerwartete Leistung vollbracht werden konnte, liegt nicht allein in der in manchen Phasen der Invasion gezeigten Unfähigkeit der russischen Streitkräfte zu großen und komplexen militärischen Operationen. Auch der Blick auf volkswirtschaftliche Kennzahlen greift zu kurz. Es hat sich eine Entwicklung in der Kriegsführung durchgesetzt, die in ihrem allumfassenden Charakter einer Revolution der Gefechtsführung gleichkommt: Ein front-umfassendes Netzwerk aus Aufklärungsplattformen und Wirkmöglichkeiten ist nicht mehr nur hochmodernen Streitkräften wie denen der Vereinigten Staaten vorbehalten. Das Gefechtsfeld ist „gläsern“ geworden – auf allen Führungsebenen entlang eines mehrere Kilometer breiten Korridors entlang der gesamten Frontlinie. Der massenhafte Einsatz unbemannter Systeme macht das möglich.

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Im aktuellen Diskurs zu den Auswirkungen des Krieges in der Ukraine auf die eigenen Doktrinen und Planungsgrundlagen wird diese Tatsache zu wenig betrachtet.

Stattdessen betreibt man vielerorts eine Analyse der Symptome dieser Entwicklung. Erst zuletzt hat der französische Generalstabschef, General Pierre Schill, diesen Umstand mit Blick auf die Entwicklung von Klein- und Kleinstdrohnen beklagt. Ein Großteil aller Analysen beschreibt die Begleiterscheinungen des grundlegenden Wandels auf dem Gefechtsfeld. Sie beschreiben aber nicht den Kern der aktuellen Revolution in der Kriegsführung.

Raumgreifende Operationen sind nicht mehr möglich

Die Auswirkungen eines „gläsernen“ Gefechtsfeldes auf die Gefechtsführung sind enorm. Jede größere offensive Operation wird schon in der Annäherung aufgeklärt und zerschlagen, bevor die Truppen in der Lage sind, sich für einen Angriff zu massieren. Einen Überraschungsmoment zu erzeugen erscheint aktuell beinahe unmöglich. Jede größere Truppenkonzentration, ob vor-, in oder hinter der Front wird zu einem Hochwertziel für eine Vielzahl an Effektoren, von FPV-Drohnen bis Artilleriefeuer.

Die taktische Aufklärung aus der Luft ist dabei zu einem unverzichtbaren Bestandteil der neuen Kriegsführung geworden. Die Technologie, die das auf allen Führungsebenen möglich macht, sind unbemannte Systeme – Aufklärungsdrohnen. Vor allem größere Starrflügler der Drohnenklasse C3 & C4 (Lastenklasse bis 25 Kilogramm) mit einer Reichweite von 30 bis 50 Kilometern und mehreren Stunden Flugdauer.

Diese Drohnen, die im Prinzip kleinen Flugzeugen ähneln, klären ihre Ziele aus mehreren Kilometern Entfernung aus einer Höhe von 500 bis 4.000 Metern auf. Sie ermöglichen nicht nur eine bisher nie dagewesene Aufklärungsdichte, sondern auch eine neue Effizienz und Präzision dabei, Feuer ins Ziel zu lenken.

Gleichzeitig sind sie schwer aufzuklären und zu bekämpfen. Moderne „Eyes in the Sky“ sind weder zu hören noch zu sehen und können in der Regel nicht mit ballistischen Wirkmitteln bekämpft werden, da sie außerhalb der effektiven Kampfentfernung der meisten Flugabwehrsysteme operieren. Aufgrund ihres geringen Radarquerschnitts sind sie ebenfalls schwer aufklärbar. Ein Beschuss mit teuren Flugabwehrraketen ist selten erfolgreich und ist nicht kosteneffizient.

Diese in Massen verfügbare Drohnentechnologie hat einen solch enormen Einfluss auf das Gefechtsfeld in der Ukraine, dass sich die ukrainische Armee dazu entschlossen hat, eine eigene Teilstreitkraft für „unbemannte Systeme“ einzuführen. An ihrer Spitze steht ein junger Oberst, Vadym Sukharevskyi. Der junge Militärführer hat den Ruf, sich bestens mit den verschiedensten Drohnensystemen auf dem Gefechtsfeld auszukennen und hat schon früh den hohen Einsatzwert unbemannter Systeme erkannt.

Moderne Softwarelösungen, die eine optische Navigation ermöglichen, bringen eine Härtung gegen Jamming. (Bild: Quantum Systems)

Eine der wenigen Möglichkeiten, sich den auf allen Führungsebenen eingesetzten Aufklärungssystemen zu entziehen, bieten aktuell noch EloKa-Kräfte (EloKa steht für Elektronischer Kampf) mit Jamming-Systemen. Diese Gegenmaßnahme hat jedoch ein Katz-und-Maus-Rennen ausgelöst, das mit immer kürzer werdenden Innovationszyklen verschiedener Drohnenhersteller beantwortet wird.

Doktrinen und Planungsgrundlagen müssen sich anpassen

So werden mittlerweile taktische Luftaufklärungssysteme, wie die Vector von Quantum Systems, als eine der größten Gefahren auf dem Gefechtsfeld gesehen. Der ukrainische Innovationshub Brave 1 und die ukrainische Armee treiben bereits mehrere Innovation Challenges voran, um im Bereich Counter UAS die russischen Aufklärungssysteme Zala und Orlan zu bekämpfen.

Ukrainische Analysten und Innovatoren zeigen damit einen viel stärkeren Fokus auf die wesentlichen Gefahren des Gefechtsfelds, während ihre westlichen Pendants den Anschein erwecken, eine fahrlässige Nabelschau zu betreiben. Die Beschränkung der Betrachtung der Drohnenkriegsführung auf kleine Quadcoptersysteme greift zu kurz. Ihr massenhafter Einsatz in der Ukraine beruht vor allem auf dem akuten Mangel an Artilleriemunition in den letzten Jahren. General Pierre Schill Fokus auf Kleinstdrohnen verkennt die eigentliche Revolution auf dem Gefechtsfeld.

Das Gefechtsfeld ist – maßgeblich durch den Einsatz unbemannter Systeme – gläsern geworden. Die NATO und Deutschland sind bisher ihre Antwort auf dieses Kriegsbild noch schuldig. Die Planer von heute werden sich in Zukunft daran messen lassen müssen, welchen Umgang sie mit diesem Thema finden und wie moderne Streitkräfte sich darauf einstellen. Unbemannte Systeme in allen Dimensionen müssen eine viel stärkere Rolle spielen – ihnen gehört die Zukunft.

Gastautoren: Matthias Lehna und Paul Strobel sind ehemalige Bundeswehroffiziere und arbeiten derzeit für den deutschen Drohnenhersteller Quantum Systems, dessen Drohnen im Ukrainekrieg eingesetzt werden.