Die nunmehr seit drei Tagen laufende Operation der ukrainischen Streitkräfte in der russischen Oblast Kursk hat neue Dynamik in den festgefahrenen Stellungskrieg gebracht. Innerhalb kürzester Zeit konnten so beachtliche Geländegewinne erzielt werden. Wenn man den frei verfügbaren Quellen glauben mag, dann stehen die ukrainischen Spitzen über 10 km tief im russischen Territorium und haben bereits elf Ortschaften eingenommen. Verantwortlich für den Erfolg scheinen Kräfte unbekannter Stärke zu sein, die drei mechanisierten ukrainischen Brigaden zugeordnet werden. Die Frage, die sich stellt, ist jedoch, wie diese unbemerkt in den Einsatzraum verlegt bzw. im Vorfeld massiert werden konnten und zudem seit 72 Stunden erfolgreich auf russischem Territorium eingesetzt werden können. Hat das insbesondere in den letzten Monaten so häufig postulierte gläserne Gefechtsfeld – ein Begriff, der eine permanente Drohnenüberwachung eines breiten Frontabschnittes beschreibt – einen Sprung?
Dem Vernehmen nach können die Ereignisse der letzten Tage wie folgt zusammengefasst werden: In der Nacht vom 5. auf den 6. August 2024 sickerten ukrainische Aufklärungskräfte an mehreren Stellen in den russischen Oblast Kursk ein. Beobachtern zufolge könnte es sich um Kräfte des in solchen Missionen bereits erfahrene 54. Aufklärungsbataillons handeln. Bereits hier zeigt sich der Charakter der Operation erstmalig. Das Gros der Spähaufklärung soll demnach durch zahlreiche kleine Aufklärungstrupps erfolgt sein. Zudem scheint das Kalkül, dass die auf russischer Seite eingesetzten Kräfte nur ungenügende Nachtkampffähigkeiten besitzen sollen, aufgegangen zu sein. Nach dem schnellen Werfen der russischen Sicherungen begannen diese Kräfte ihren ursprünglichen Auftrag in Form von Aufklärung innerhalb russischen Staatsgebietes. Diesem folgte am 6. August ein kurzer aber scheinbar überaus präziser Feuerüberfall der ukrainischen Artillerie. In den darauffolgenden zwei Tagen entfaltete sich das Gefecht mindestens einer verstärkten mechanisierten Brigade bis hin zu der Stadt Sudzha, um die offenkundig aktuell noch gekämpft wird. Ob dieser Angriff in das Staatsgebiet Russlands irgendeinen wie auch immer gearteten Einfluss auf den Kriegsverlauf haben wird, muss sich zeigen. Aber bereits jetzt können einige Beobachtungen festgehalten werden.
Die Überraschung ist zurück
Der fachliche Diskurs, insbesondere in den letzten Monaten, kam zunehmend zu der Konklusion, dass das Zusammenziehen von größeren Verbänden in einem frontnahen Bereitstellungsraum geradezu selbstmörderisch anmutete. Die rasante Kill-Chain, basierend auf einem omnipräsenten, alle Domänen umfassenden Sensor-Effektor-Netzwerk würde nicht nur das Massieren dieser Kräfte, sondern auch ihre logistische Unterstützung empfindlich treffen und innerhalb von wenigen Tagen, wenn nicht gar Stunden abriegeln und zerschlagen. So zumindest die These.
Im Gegensatz zu dieser Prophezeiung gelang es der Ukraine offiziellen Mitteilungen zufolge, die 22. Mechanisierte Brigade, einen erfahrenen Einsatzverband, unbemerkt in den Bereitstellungsraum in Grenznähe zu verbringen. Internationale Analysen haben zudem Kräfte der 61. mechanisierten Brigade und der trotz der Terminologie ebenfalls mechanisierten 82. Luftsturmbrigade im Raum Kurs identifiziert. Kräfte dieser drei Brigaden stehen seit 72 Stunden im genannten Operationsraum und scheinen mit wechselnden Schwerpunkten weiterhin vorzugehen, wobei noch unklar welche der eingeschlagenen Angriffsachsen die Hauptstoßrichtung und welche die Nebenstoßrichtung darstellt. Möglich wurde dies offenkundig durch ein Zusammenspiel von alten Tugenden klassischer Kriegsführung und neuen Ansätzen.
Den Ukrainern ist es gelungen, die Verlegung, oder wenigstens das Ziel dieser, vor den russischen Streitkräften zu verbergen. Weder die operative noch die taktische und auch nicht die nachrichtendienstliche Aufklärung Russlands scheint von dem Angriff vorher gewusst zu haben. Dies ist insbesondere deshalb bemerkenswert, da es sich um drei kampfkräftige, mit westlicher Militärtechnik ausgestattete Hochwertverbände handelt. Hierzu trug auch die in letzter Zeit zunehmend erfolgreich geführte Bekämpfung russischer Aufklärungsdrohnen wesentlich bei.
Zudem nutzten die ukrainischen Streitkräfte offenkundig im Vorfeld erkannte Mängel ihres Gegners aus. Neben der bereits erwähnten mangelnden Nachkampffähigkeit in der frühen Phase des Angriffes tut sich die russische Luftwaffe schwer, die vorgehenden ukrainischen Marschkolonnen in dem durchschnittenen Gebiet aufzuspüren und zu treffen. Durch das rasche Nachführen von Heeresflugabwehr ist es der ukrainischen Seite gelungen der russischen Luftwaffe empfindliche Verluste beizufügen und die eigenen Kräfte zu schützen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass bis dato keine einzige der gefürchteten UMPK-Gleitbomben zum Einsatz kamen. Dies scheint die Vermutung von internationalen Beobachtern zu bestätigen, dass die für die Zielführung benötigten GNSS-Zielkoordinaten vor dem Start in das Waffensystem eingespeist werden müssen. Diese liegen bei der fluiden Entwicklung des Gefechtes jedoch aktuell nicht in der Qualität und der hinreichenden Aktualität vor, dass die russische Luftwaffe einen Einsatz wagen würde. Letztgenannter Punkt ist ebenfalls ein Indiz für die angeschlagene Aufklärungsfähigkeit durch unbemannte russische Luftfahrzeuge. Berichten zufolge wurde diese im Vorfeld und im Zuge der ukrainischen Offensive mittels Elektronischer Kampfführung gestört bzw. teilweise durch Abfangdrohnen bekämpft.
Schlussfolgerung
Der Angriff der Ukraine auf russisches Staatsgebiet hat gezeigt, dass das gläserne Gefechtsfeld sich sehr wohl, mindestens partiell so stark eintrüben lässt, dass nicht nur taktische, sondern potenziell operative Überraschungen weiterhin möglich sind. Mechanisierte, beweglich geführte Kriegsführung ist weiterhin das Mittel der Wahl, um die Entscheidung herbeizuführen. Hierfür ist eine alle Domänen erfassende Verhinderung oder zumindest Einschränkung gegnerischer Aufklärung ein Schlüssel. Zudem spielen alte Tugenden wie eine konsequente und gelebte Geheimhaltung, die meisterhafte Ausnutzung des Geländes und nicht zuletzt eine potente, mobile Flugabwehr weiterhin und unverändert die entscheidende Rolle.
Kristóf Nagy