Nach Einschätzung von Tim Cahill schaut die ganze Welt auf die Ereignisse in der Ukraine und zieht Schlüsse daraus. „Ich denke, dass das Bewusstsein für die nationale Sicherheit gestiegen ist. Und das geht über die Ukraine und Europa hinaus“, sagt der Lockheed-Martin-Manager, der eine von vier Business Divisions des größten Rüstungskonzerns der Welt leitet, im Interview mit hartpunkt.
„Es ist wirklich ein weltweites Phänomen, bei dem sich alle Nationen fragen: Wie können wir verhindern, dass so etwas auch bei uns geschieht?“ Dies habe die Wahrnehmung erzeugt, nur mit ausreichender Stärke einen potenziellen Aggressor abschrecken zu können.
Cahill leitet als President die Lockheed-Martin-Sparte Missiles and Fire Control (MFC) mit rund 20.000 Mitarbeitern und einem Umsatz von mehr als 11 Milliarden US-Dollar. MFC entwickelt, fertigt und unterstützt fortschrittliche Sensoren, Raketen sowie Flug- und Raketenabwehrsysteme. Darüber hinaus bietet MFC technische Dienstleistungen und logistische Unterstützung für militärische Kunden wie die U.S. Army, Navy, Air Force, das Marine Corps, die Missile Defense Agency, Special Operations Forces und verbündete Nationen.
Der Krieg in der Ukraine hat nach Aussage des Luft- und Raumfahrtingenieurs bei Militärs weltweit großes Interesse an den dort mit Erfolg eingesetzten Waffensystemen geweckt. Das gelte etwa für das von Lockheed Martin hergestellte Raketenartilleriesystem HIMARS mit seinen GMLRS- und ATACMS-Raketen. Auch der Flugkörper PAC-3 MSE (Missile Segment Enhancement), der für den „Zauber“ des Patriot-Systems stehe, ziehe eine enorme Aufmerksamkeit und Nachfrage auf sich. „Denn man hat erkannt, dass es immer wichtiger wird, über Abstandsfähigkeit zu verfügen, um in der Tiefe zuschlagen zu können“, sagt Cahill.
Bei Abstandswaffen, die aus der Luft gelauncht werden, seien für seinen Konzern Systeme wie die Joint Air-to-Surface Standoff Missile (JASSM) und die Long Range Anti-Ship Missile (LRASM) von großer Bedeutung. Dazu kommen noch die Sniper Targeting Pods. Diese für Flugzeugen der vierten Generation vorgesehenen Systeme dienen laut Cahill nicht nur zu Zielauffassung, sondern werden auch verstärkt für die Kommunikation verwendet.
„Das Interesse an dieser Munition ist weltweit vorhanden, aber in Europa ist es sicherlich intensiver als irgendwo sonst“, betont der Manager, der in seiner vorherigen Position bei Lockheed Martin auch für das internationale Geschäft zuständig war. Sein Geschäftsbereich sei auf die eine oder andere Weise in etwa 64 Ländern der Welt tätig. Dem europäischen Markt komme dabei eine große Bedeutung zu. „Die Verbindung der Vereinigten Staaten mit Europa durch die NATO macht es für uns selbstverständlich, in diesen Ländern zu operieren.“
Es gebe hier eine Notwendigkeit und weiteres Potenzial für Interoperabilität. Immer mehr Länder in Europa verwenden laut Cahill die gleichen Systeme, zum Beispiel die gleiche Raketenartillerie, die gleichen Flugzeuge, wie etwa die F-35. „Das ist von entscheidender Bedeutung für die Verteidigung der NATO. Aber es bedeutet auch, dass dies ein natürlicher und bedeutender Markt für uns ist. Wir sind uns dessen bewusst und arbeiten sehr hart daran, mit Unternehmen in Europa zusammenzuarbeiten und Kapazitäten in Europa aufzubauen.“ Dazu werden in Polen und mit zahlreichen Unternehmen in Deutschland Gespräche geführt.
„Es geht also nicht nur darum, die Fähigkeit in Bezug auf das Endprodukt zu bringen, sondern es geht darum, die wirtschaftlichen und technologischen Fähigkeiten der besten Systeme der Welt, die sich in der Ukraine bewährt haben, nach Europa zu bringen und die Arbeitsplätze, die Technik und die Montage auf die gleiche Weise einzubringen.“ Die Frage sei: Was können wir hier bauen und hier montieren? Was könnten wir hier beschaffen und dann in unsere globale Lieferkette einbringen?
Lockheed Martin kooperiert bei der Raketenartillerie für den potenziellen Nutzer Bundeswehr bereits mit dem Düsseldorfer Rüstungskonzern Rheinmetall. Kürzlich haben beide Partner überdies eine Memorandum of Understanding für eine erweiterte Zusammenarbeit geschlossen. Nach Aussage von Cahill laufen gegenwärtig die Sondierungsgespräche darüber, wie dieses MoU ausgefüllt werden kann.
Die wahrscheinlich „unmittelbarste“ Zusammenarbeit zwischen beiden Partnern erfolgt seiner Aussage zufolge jedoch beim Raketenartilleriesystem GMARS. „Dabei geht es darum, das HIMARS-System zu nehmen und es auf einen deutschen Lkw zu montieren und diese Integration von Rheinmetall durchführen zu lassen.“ Es handele sich um ein sehr ausgereiftes Projekt. GMARS werde alles mitbringen, was ein Vorteil für HIMARS sei, bei verdoppelter Zahl der Raketen durch die Nutzung von zwei Pods. „Man bekommt ein kampferprobtes System, das sich in der Ukraine bewährt hat. Sie erhalten die Fähigkeit dieses Systems, ein Ziel schnell zu erfassen, zu feuern, zu zielen und sich zu bewegen. Es ist also alles auf Schnelligkeit ausgelegt.“ So bleibe es überlebensfähig. Das sei der Grund, warum es sich noch immer in der Ukraine im Einsatz befinde. Das schnelle Nachladen sei ohne Kräne und andere Hilfsmittel möglich.
GMARS werde die Fähigkeit haben, die gesamte Palette von Artillerie-Raketen wie HIMARS zu verschießen. Also etwa GMLRS, Extended Range GMLRS, ATACMS und seit neustem die Precision Strike Missile (PrSM). Cahill kann noch nicht sagen, wann PrSM für die Bundeswehr verfügbar sein könnte, da die neue Langstreckenrakete erst seit Kurzem in die US-Streitkräfte eingeführt wird. „Die U.S. Army müsste genau entscheiden, wann die einzelnen Länder sie bekommen. Wir bauen gerade PrSM und liefern die Waffe an die U.S. Army, und die Produktion steigt rapide an. Wir haben die Lizenz, mit allen möglichen Ländern, einschließlich Deutschland, darüber zu sprechen. Aber wann genau sie geliefert werden können, hängt von der US-Regierung ab.“
Nach Aussage des MFC-Chefs ist sein Unternehmen weltweit auf der Suche nach Sekundär-Quellen für eine Reihe von Systemen und der Möglichkeit, auf Fähigkeiten und Talente zurückzugreifen. Es bestehe die Möglichkeit, dass auch Raketen in Deutschland gebaut werden oder Feststoffraketenmotoren hierzulande beschafft werden. „Wir versuchen, die Produktion so schnell wie möglich hochzufahren, und das Problem ist immer, dass wir nicht genug Nachschub bekommen. Es liegt nicht an unseren Produktionskapazitäten. Wir haben eigentlich genug Platz für die Produktion. Es ist die Beschaffung der Teile. Wir sind also ständig aktiv auf der Suche danach.“
Bodengebundene Luftverteidigung
Bei der bodengebundenen Luftverteidigung hat Lockheed Martin nach Aussage von Cahill immer einen Ansatz mit verschiedenen Abfangschichten verfolgt. In der unteren Schicht gehe es um Kurzstreckensysteme, die „weichere Ziele“ angreifen, wie zum Beispiel Flugzeuge, die sehr langsam fliegen. Dort arbeite man in der Regel mit Partnern zusammen.
Die nächste, mittlere Abfangschicht, werde mit dem Lenkflugkörper PAC-3 MSE abgedeckt. „Was die Fähigkeiten angeht, gibt es im Moment nichts Besseres als PAC-3“, ist Cahill überzeugt. Für die nächsthöhere Schicht werde THAAD eingesetzt, die Abkürzung steht für Terminal High Altitude Area Defense. Auch THAAD sei kampferprobt, wenn auch nicht im gleichen Maße wie PAC-3. „Unser Schwerpunkt liegt in den Abfangschichten von PAC-3 und THAAD. Und das hat eine große Zukunft.“ Die Nachfrage nach PAC-3 sei im Moment enorm. „Und ich denke, sie wird weiter steigen.“
Cahill räumt jedoch ein, dass die Produktion größer sein könnte. „Es gibt einen erheblichen Rückstand, aber wir produzieren bereits 550 Stück pro Jahr. Und wir werden wahrscheinlich bis zu 650 pro Jahr herstellen, wir sind sogar schon auf dem Weg dorthin. Und es gibt immer wieder Diskussionen darüber, ob wir nicht noch höher gehen sollten.“
Einsatz von Schiffen
Neben der Anwendung des Flugkörpers für die bodengebundene Luftverteidigung arbeitet Lockheed Martin auch an einer Anwendung von Schiffen. „Es hat sich herausgestellt, dass alle Eigenschaften einer PAC-3, die ihn an Land so wendig und fähig machen, sehr gut gegen diese hochentwickelten Raketen funktionieren, die möglicherweise gegen Schiffe auf der ganzen Welt eingesetzt werden“, begründet Cahill den Ansatz. „Deshalb haben wir mit der US-Marine zusammengearbeitet und sie bei der Einschätzung der Bedrohungen unterstützt, die auf sie zukommen werden, und bei der Frage, welche potenziellen Raketen sie zur Bekämpfung dieser Bedrohungen haben.“ Die PAC-3 MSE habe dabei ihre „unglaubliche Fähigkeit“ herausgestellt, und die Navy sei sehr daran interessiert. Der Flugkörper gilt als besonders agil im sogenannten Endgame, bei dem das Ziel selbstständig bekämpft wird.
„Wir sind also dabei, den Prozess zu durchlaufen. Wir haben mit der Marine zusammengearbeitet und einen erheblichen Betrag an Unternehmensinvestitionen investiert.“ Das Unternehmen habe bereits den Nachweis erbracht, dass die MSE gegen ein Luftziel aus einem Mk-41-Launcher, wie er auf Schiffen verwendet wird, am Boden gestartet werden kann. Der nächste und letzte Schritt sei die Demonstration auf einem Schiff. Cahill sieht dem Test entspannt entgegen, da er keine Probleme erwartet. „Wir haben die gesamte Schleife des Systems demonstriert, und wir werden es auf einem Schiff demonstrieren.“ Lockheed Martin strebe an, dies gegen Ende des Jahres zu tun.
Vor dem Hintergrund der Huthi-Angriffe auf Schiffe im Roten Meer arbeitet der US-Rüstungskonzern auch an einer kurzfristigen Lösung für die kosteneffiziente Verteidigung von Marineschiffen gegen Drohnen. „Innerhalb unseres Portfolios haben wir alles von Javelin-Raketen bis hin zur HELLFIRE-Familie, die HELLFIRE und JAGM umfasst.“ Cahill bezeichnet die JAGM (Joint-Air-to-Ground Missiles) als nächste Generation dieser sehr leistungsfähigen kleinen Raketen, die sehr preiswert und sehr gut sei. Es handele sich um eine „Blast Fragment“-Rakete, die sich gegen Luftziele sehr gut bewährt habe. „Wir sind also dabei, in den nächsten Monaten einige Demonstrationen durchzuführen, um zu zeigen, was wir von einem Schiff aus tun können, um JAGMs gegen Drohnen einzusetzen. Und wir glauben tatsächlich, dass das ziemlich erfolgreich sein wird.“
Der Lockheed-Martin-Manager sieht keine Notwendigkeit, angesichts der augenblicklichen Bedrohungslage die PAC-3 grundlegend zu modernisieren. „Ich würde sagen, dass die PAC-3 MSE oder die PAC-3-Rakete im Allgemeinen in der Ukraine extrem gut funktioniert hat, mindestens so gut, wie wir es erwartet haben. Wir haben sie jetzt gegen Ziele eingesetzt, die wir nicht simulieren konnten, und sie hat sich bewährt.“
Die Bedrohung entwickle sich aber stets weiter. Deshalb bewerte man zusammen mit der US-Armee die voraussichtliche Bedrohung in fünf, in zehn und in 15 Jahren. „Das bedeutet also immer, dass wir die PAC-3 MSE adaptieren werden.“ Bei einer Obsoleszenzbereinigung werde stets die Konnektivität der Rakete verbessert. „Wir rüsten die Elektronik jedes Mal auf, wenn sie veraltet ist“, so Cahill. Ach seien Upgrades für den Suchkopf selbst vorgesehen. „Es ist ein System, das ständig Teil für Teil weiterentwickelt und verbessert wird.“
Hyperschall
Nach seiner Einschätzung verfügen PAC-3 MSE und THAAD bereits über gewisse Fähigkeiten gegen Hyperschall-Bedrohungen. „Es handelt sich um Hit-to-kill-Raketen. Das bedeutet, dass sie die ankommende Rakete oder das ankommende Ziel direkt treffen. Und zwar mit einer solchen Wucht, dass das Ziel ausgelöscht wird. Buchstäblich ausgelöscht.“
Seiner Aussage zufolge müssen nicht nur die Abfangraketen, sondern auch die Radar- und Sensorsysteme sowie die Kommando- und Kontrollsysteme weiter ausgebaut werden, um immer besser gegen Hyperschallraketen gewappnet zu sein. „Ich würde also sagen, so wie die Missile Defense Agency in den Vereinigten Staaten an der nächsten Generation der Hyperschallabwehr arbeitet, so brauchen wir, auch wenn wir jetzt schon einige Fähigkeiten haben, mehr davon.“ Für Lockheed Martin sei es nur natürlich, PAC-3 und THAAD aufgrund ihrer Leistungsfähigkeit als Basis für diese Upgrades zu verwenden.
Während beim Patriot-Luftverteidigungssystem der Flugkörper von Lockheed Martin kommt, Raytheon das Radar beisteuert, liefert Northrop Grumman das C2-Feuerleitsystem. Das sei kein Problem für sein Unternehmen und man arbeite gut mit den beiden Partnern zusammen, so Cahill. „Es gibt nicht nur die Feuerkontrolle um ein „Integrated Air and Missile Defence“-System herum. Wir sind sehr wettbewerbsfähig, wir bauen Systeme wie Diamond Command, Diamond Shield an verschiedenen Orten in der Welt. Wir sind führend bei C2BMC, dem übergreifenden System in den Vereinigten Staaten. Wir haben dort also enorme Fähigkeiten. Und wir sind, denke ich, sehr wettbewerbsfähig. Wir haben zum Beispiel das Aegis-System, das ebenfalls ein integriertes Flug- und Raketenabwehrsystem ist, das die gleiche Aufgabe erfüllt.“
Lockheed Martin steckt auch erhebliche Summen in Forschung und Technologie. Dabei geht es nicht nur um die Weiterentwicklung bestehender Produkte, sondern auch um neue Technologien. Ein Projekt, das ein Produkt eigener Forschung sei, heiße Mako, erläutert Cahill. Es handele sich um eine kleine luftgestützte Rakete, mit einem „schönen Design“ und der Fähigkeit, einen Hyperschall-Angriff von einem Flugzeug aus durchzuführen. Hyperschall wird als Geschwindigkeit größer als Mach 5 bezeichnet.
„Das ist eine der aufregenden Entwicklungen für uns, weil sie leicht fertigentwickelt werden kann und in jeder Luftwaffe sehr gut einsetzbar wäre. Aber das wirklich Aufregende daran ist, dass es alle neuen digitalen Technologien einsetzt. Alles wird digital entworfen.“ Man gehe weg vom Papier und integriere das System in Simulationen. „So kann man sofort vorhersagen, was sich bei einer Änderung des Entwurfs in der Testumgebung und in der Betriebsumgebung bis hin zum Ende der Lebensdauer ändert. Und das passt sehr gut zu etwas, das wir bei Lockheed Martin durchführen. Wir nennen es 1LMX. Wir integrieren, aktualisieren und digitalisieren unsere gesamte Infrastruktur mit diesen Tools.“ Die Entwicklung der Hyperschallwaffe Mako sei in diesem Zusammenhang eines der Pilotprojekte, die Lockheed Martin in den vergangenen Jahren verfolgt habe, erläutert Cahill.
„Es geht darum, dass wir alle unsere Werkzeuge, unsere Infrastruktur und unsere Entwurfsmethoden so umgestalten, dass sie schneller und effektiver sind und die Leistung besser vorhersagen können, so dass wir hoffentlich nicht mehr so viele Tests durchführen müssen, weil wir bereits genau wissen, wie sich die Sache verhalten wird, weil wir sie im digitalen Raum mit High-Fidelity-Modellen haben.“
Nach Einschätzung des MFC-Chefs wird Künstliche Intelligenz in Zukunft viele Dinge verändern. Für die Analyse von Effekten auf einem Schlachtfeld werden seinen Worten zufolge nicht unbedingt Menschen benötigt. Die Möglichkeit, Systemen die Reaktion zu überlassen, sei sehr wirkmächtig. „Die Kombination mit integrierten Systemen wird die Art und Weise, wie wir kämpfen, enorm verändern“, erwartet Cahill. Alles werde miteinander verbunden. „Die F-35 kommuniziert augenblicklich mit allen anderen Komponenten, die sich im Einsatz befinden, um das effektivste System zum richtigen Zeitpunkt zum Einsatz zu bringen. Dazu kommt ein System mit künstlicher Intelligenz, das viel besser erkennt, was vor sich geht, als ein Mensch es könnte. Darin liegt wahrscheinlich die Zukunft.“
Lars Hoffmann