Bei der Berlin Security Conference vor einigen Wochen stand das Thema Entwicklung von europäischen Fähigkeiten für den Deep Precision Strike – also Präzisionsschläge tief im Raum des Gegners – auf der Tagesordnung und wurde in einem speziellen Panel behandelt. General Christian Badia, Deputy Supreme Allied Commander Transformation der NATO, sagte dort in seinem Statement, dass gegenwärtig das Thema Conventional Deep Strike unterhalb der nuklearen Schwelle intensiv diskutiert wird. Die Fähigkeit dazu werde jetzt, in allen Domänen und mit allen Aspekten benötigt, betonte Badia. Am Rande der Veranstaltung hat hartpunkt mit Guido Brendler, Leiter Vertrieb und Geschäftsentwicklung bei MBDA Deutschland, zur Positionierung seines Unternehmens zu dem Thema gesprochen.
hartpunkt: Herr Brendler, Sie haben gerade über das Thema Deep Precision Strike referiert, worauf die Initiative „European Long Range Strike Approach“ (ELSA) abzielt. Hat MBDA bereits Vorschläge, was man für dieses Projekt anbieten könnte?
Brendler: Das Vorhaben Deep Precision Strike (DPS) oder die sogenannte ELSA-Initiative steht noch am Anfang. Es finden jetzt die ersten Gespräche auf Regierungsebene statt, auf deren Basis wir dann in konkrete Lösungen einsteigen werden. Wir haben heute auch gehört, dass man sich verschiedene Cluster und damit verschiedene Fähigkeiten anschaut. Es bleibt jetzt abzuwarten, was das Ergebnis dieser Cluster-Diskussion sein wird.
hartpunkt: Wer führt die Diskussion?
Brendler: Das findet derzeit noch auf der Government-to-Government-Ebene statt, später kommt dann typischerweise die Industrie dazu. Bei der Diskussion geht es auch um die Frage der Reichweitenbänder und dem Zusammenspiel zwischen Reichweite und Effekt. Das wird ELSA oder Deep Precision Strike am Ende ausmachen mit Blick auf die Clusterausprägung.
hartpunkt: Welches wäre das Band für die mittlere Reichweite?
Brendler: Das ist, nach meiner Einschätzung, das Reichweitenband um die 500 Kilometer. Das, was TAURUS heute abbilden kann, plus natürlich eine Möglichkeit, strategische Ziele angreifen zu können. Hierzu ist TAURUS natürlich auch in der Lage. Darunter sehe ich eine ähnliche Reichweite, aber eher taktischen Nutzen: kleinere Gefechtsköpfe, kleinere Flugkörper, auch verbunden mit nicht kinetischen Effekten zu einem geringeren Preis. Das, was wir zum Beispiel jetzt in Deutschland verfolgen mit dem RCM², das könnte ich mir als taktisches Element darunter vorstellen.
(Bei RCM² (Remote Carrier Multidomain Multirole Effector) handelt es sich um ein von MBDA entwickeltes Sensor- und Effektor-System, das sowohl im kinetischen als auch im elektromagnetischen Spektrum eingesetzt werden kann. Die RCM²-Flugkörper sollen insbesondere in einem auftragsbasierten Verbund in stark verteidigten Einsatzgebieten agieren und so die Durchsetzungsfähigkeit im Einsatz erhöhen, Anm. d. Red.)
hartpunkt: … und hinsichtlich der größeren Reichweite?
Brendler: Hinsichtlich der größeren Reichweite, also jenseits der 500 Kilometer, verfolgen wir in Deutschland aufmerksam die Diskussion um die mögliche Stationierung des amerikanischen Flugkörpers Tomahawk. Die Reichweite dieses Marschflugkörpers und der damit verbundene Effekt ist auf strategische Ziele ausgerichtet. Somit hätten wir im Prinzip drei große Kategorien, die ich sehe. Möglicherweise mit weiteren Unterteilungen. Das entscheiden am Ende aller Tage aber die Regierungen und nicht die Industrie.
Brendler: Was wir aus meiner Sicht brauchen, sind Fähigkeiten die die heutigen Reichweiten übersteigen. Warum ist das so? Weil die Luftverteidigungssysteme und die Möglichkeit des Gegners mittels Raketenartillerie, Loitering Munitions oder den Einsatz von Luftstreitkräften wirken zu können zu räumlichen Veränderungen im Operationsgebiet führt. Die Frage ist, wie viel Abstand muss ich zur Grenze haben und kann ich es mir leisten, meine Soldaten diesem Risiko auszusetzen? Ich denke die Antwort liegt auf der Hand und führt dazu, dass Streitkräfte sich deutlich weiter im Rückraum bewegen werden. Das heißt, ich muss von einem sicheren Operationsraum bis zur Grenze erstmal die Distanz überwinden, um dann in der Tiefe des Raumes wirken können. Welche Entfernung dabei herauskommt, bleibt abzuwarten.
hartpunkt: Gibt es da schon Vorschläge oder Vorstellungen von MBDA, was man machen könnte vor dem Hintergrund, dass Lösungen sofort benötigt werden, wie General Badia sagt?
Brendler: Zeit ist der kritische Faktor, der heute im Rahmen der BSC angesprochen wurde. Wenn General Badia von Marktverfügbarkeit spricht, dann bieten sich aus dem MBDA-Portfolio für eine lange Reichweite die Missile de Croisiere Naval (MdCN) oder die Naval Cruise Missile (NCM) an. Eine Adaptierung auf eine bodengestützte Variante, also die Land Cruise Missile (LCM), ist zeitnah möglich. Wenn wir also über eine europäische Lösung nachdenken, dann reden wir von einem relativ kurzen Zeitraum, in dem eine Realisierung möglich wäre.
hartpunkt: Wann rechnen Sie mit konkreten Entscheidungen?
Brendler: Aufgrund der politischen Lage wird das voraussichtlich nicht vor Sommer 2025 sein. Das hängt davon ab wie die Regierung sich konstituiert und wie schnell diese aus der vorläufigen Haushaltsführung rauskommt. Es sei denn, man trifft außerhalb des normalen politischen Prozesses eine andere Entscheidung.
hartpunkt: Wie wird es mit der industriellen Zusammenarbeit aussehen? Es sind ja mehrere Länder, die ELSA unterschrieben haben. Gibt es da schon Vorgespräche von Seiten der Industrie, wie man zusammenarbeiten will?
Brendler: Wenn Sie sich anschauen, welche Nationen der MBDA angehören, wenn Sie sich anschauen, welche Länder ELSA unterzeichnet haben, dann sind das die MBDA-Nationen plus Polen und Schweden. Zu allen pflegen wir enge Beziehungen. Das heißt, MBDA ist prädestiniert, den industriellen Nukleus zu bilden und diese Diskussion auf der Industrieseite zu begleiten. Darauf bereiten wir uns vor.
hartpunkt: Gibt es nur diese eine Initiative ELSA oder nicht doch noch irgendwas Separates in Europa? Anfangs existierten ja viele bilaterale Ansätze.
Brendler: ELSA ist eine politische Initiative auf Einladung Frankreichs, die auf dem Washington Summit unterschrieben worden ist. Zudem haben Deutschland und UK das Trinity House Treaty unterschrieben. Auch hier werden vermutlich bilaterale Gespräche geführt, die in den ELSA-Kontext sehr gut reinpassen könnten. Dies sind aber alles regierungsseitige Gespräche an deren Anfang wir noch stehen.
hartpunkt: Ein Thema war heute auch All Domain Operations. Wird ein Flugkörper oder ein System für die Anwendung von Land, See und Luft entwickelt oder vorgesehen. Werden es verschiedene Systeme sein?
Brendler: „Multi Domain“ und „Multi Role“ würde ich da unterscheiden. „Multi Domain“ adressiert die Erbringungsdimensionen Land, Luft, See und den Informationsraum. Das hat unserer Vorstellung nach eine Auswirkung auf die Art und Weise, wie ich solche Systeme führe. Vor diesem Hintergrund ist es letztlich irrelevant, ob die Systeme über landbasierte, seegestützte oder luftgestützte Plattformen verschossen werden. Wir verfolgen einen plattformagnostischen Ansatz. Wir sagen: es ist egal, wo der Flugkörper herkommt, Hauptsache er ist „Multi Domain“-fähig und kann auch so geführt werden. „Multi-Role“ adressiert die Variabilität im Einsatz, d.h. Sensoriken oder letale bzw. nicht-letale Effekte.
hartpunkt: Wie lange würde das dauern, so etwas zu entwickeln? Wir haben über die MdCN gesprochen mit ihrer größeren Reichweite, die einen strategischen Impact hat.
Brendler: Wenn wir basierend auf der MdCN aufsetzen würden, dann ist das innerhalb von wenigen Jahren machbar. Vorausgesetzt es werden die erforderlichen Entscheidungen getroffen, Budgets hinterlegt und Verträge mit der Industrie geschlossen.
hartpunkt: Welches Budget braucht man für sowas? Milliarden oder reichen mehrere 100 Millionen?
Brendler: MdCN ist ein marktverfügbares Produkt, deshalb ist der Aufwand sehr gering im Vergleich zu einer Neuentwicklung. Wenn wir aber weiter schauen, uns mit zukünftigen Fähigkeiten und weiteren technologischen Entwicklungen beschäftigen, zum Beispiel im Bereich der hypersonischen Flugkörper, dann müssen wir dieses Investment heute bereits initiieren, um dann vielleicht in einigen Jahren über solche gefechtsfeldüberlegenen Waffensysteme aus europäischer Entwicklung verfügen zu können. Machen wir das nicht, dann schaffen wir jetzt nur eine kurzfristige Abhilfe und wir stehen in einigen Jahren wieder ohne marktverfügbare Lösungen da. Wir brauchen daher einen rollierenden Prozess, wo wir auf der einen Seite schauen, wie wir durch marktverfügbare Lösungen unsere Fähigkeitslücken geschlossen kriegen, aber gleichzeitig Investitionen für Zukunftstechnologien anstoßen.
hartpunkt: Sehen Sie noch andere Waffensysteme, die man weiterentwickeln könnte, etwa den Taurus?
Brendler: Der TAURUS ist eine luftgestützte Variante im Kontext DPS. Er verfügt schon heute über einzigartige Fähigkeiten hinsichtlich Durchsetzungsfähigkeit und Präzision. Aus unserer Sicht ist es sinnvoll, den TAURUS in seinen Fähigkeiten weiterzuentwickeln und über die nächsten Jahre hinaus zusammen mit unseren Partnern zu produzieren. Vor diesem Hintergrund arbeiten wir bereits an neuen Technologien.
hartpunkt: Gibt es bei diesem DPS-Entwicklungsprozess eine Nation, die im Lead sein wird? Oder wird das gleichberechtigt unter allen aufgeteilt? Und wird es dann möglicherweise sogar noch mehrere Schwerpunkte geben oder verschiedene Nationen, die unterschiedliche Waffen entwickeln?
Brendler: Tatsächlich verfügen die Nationen über unterschiedliche Produkte, die sich schon in der Nutzung befinden oder deren Neuentwicklung sie angestoßen haben. Demzufolge werden voraussichtlich nicht für alle Nationen der volle Umfang der ELSA-Initiative interessant sein. Mir scheint, dass das Thema sehr große Reichweite für Deutschland möglicherweise von vorrangigem Interesse ist, weil wir TAURUS schon in der operationellen Nutzung haben und weiter verfolgen wollen.
hartpunkt: Wenn es um die technologische Weiterentwicklung geht, was sind die Technologien, die Sie als entscheidend für zukünftige Abstandswaffen sehen?
Brendler: Ich denke, dass das Thema GPS-unabhängige Navigation ein ganz zentrales Thema sein wird. Zudem wird Künstliche Intelligenz (KI) nicht nur im Bereich der Signalverarbeitung, sondern auch in weiteren Bereichen Einzug halten. Die Frage, ob zum Beispiel Hyperschalltechnologien zur Anwendung kommen ist eine Frage, die von den Nationen zu beantworten ist. Operationell müssen hinsichtlich Reichweite, Zeit bis zum Erreichen des Ziels („time-to-target“) und Durchsetzungsfähigkeit, erhebliche Verbesserungen mit Blick auf die heute existierenden Fähigkeiten erreicht werden. Wir als Industrie sind jedenfalls in der Lage die Fähigkeitsforderungen und neue Technologien in gefechtsfeldüberlegene Produkte umzusetzen.
Hartpunkt: Kann das alles im Verbund funktionieren?
Brendler: Das muss der Anspruch sein! Ich gehe davon aus, dass zukünftig militärische Mittel domänenübergreifend und taskbasiert eingesetzt werden. Eine Multi-Domain-Operation (MDO) stellt besondere Anforderungen an die Kommunikations- und Führungsfähigkeit über die Grenzen der jeweiligen Teilstreitkraft hinaus. Schauen wir beispielsweise auf unsere RCM²: Das sind kleine, taktische, modular aufgebaute und miteinander kommunizierende Flugkörper. Man kann sie sich wie ein Rudel Tiere vorstellen, die unterschiedliche Rollen einnehmen: der eine lockt, der andere schnüffelt , der andere bellt und der Vierte beißt gegebenenfalls zu. Bei den taskbasierten Operationen wird KI eine zunehmend wichtigere Rolle einnehmen. Beispiel: Identifiziere mit einer 75prozentigen Wahrscheinlichkeit eine Pantsir-Luftverteidigungsstellung. Das wäre eine taskbasierte Operation, aus der sich möglicherweise nach Erreichung der 75% Identifikationswahrscheinlichkeit neue Aufgaben ableiten würden.
Das ist aus meiner Sicht einer der Trends der Zukunft. Ein Verbund dieser kleinen taktischen Elemente könnte z.B. auch einen Marschflugkörper wie TAURUS begleiten. In diesem Szenario würden High End, Low Cost und Orchestrierung in einem MDO-Ansatz zusammenspielen.
hartpunkt: Kann Europa das alles alleine leisten oder braucht man Hilfe aus den USA?
Brendler: Europa muss es leisten können, natürlich auch in Zusammenarbeit mit unseren Partnern. Mein Verständnis ist, dass Europa sich unabhängiger machen muss, um komplementär zu den Amerikanern und unterstützend innerhalb der NATO seine Rolle zu finden. Wir haben uns in der Vergangenheit zu sehr auf die USA verlassen.
hartpunkt: Und was erwarten Sie jetzt als nächste Schritte im Rahmen DPS?
Brendler: Zeitnahe Entscheidungen. Ich glaube, wir müssen uns auf Fähigkeiten einigen und schnell zu greifbaren Ergebnissen kommen. Unsere Rolle ist da relativ einfach als Industrie, wir können das nur industriell begleiten. Wir stehen in den Startlöchern und können schnell unterstützen, wenn wir wissen, was wir tun sollen.
Das Interview führte Lars Hoffmann.