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Heer hat Bedarf von mehr als 150 Radhaubitzen

Der Ukraine-Krieg zeigt eindrücklich die große Bedeutung der Artillerie auf dem modernen Gefechtsfeld. Vergleicht man die Artilleriesysteme der Bundeswehr mit der Ausstattung anderer Streitkräfte, fällt auf, wie schwach das Heer hier aufgestellt ist. So dürften die vier deutschen Artilleriebataillone nur über rund 100 Panzerhaubitzen 2000 verfügen, nachdem 14 Exemplare dieses Typs an die Ukraine abgebeben wurden.

Mit der Bedrohung durch Russland und dem geplanten Aufbau der sogenannten Mittleren Kräfte des Heeres hat sich der Bedarf an modernen Artilleriesystemen im Kaliber 155mm jedoch deutlich erhöht.  So sieht das Heer einen Bedarf von 160 Radhaubitzen, wie aus der jüngst erschienenen Informationsbroschüre „Zeitenwende Ukraine-Krieg – Modernisierung der Landstreitkräfte“ hervorgeht.  Damit würde sich die Anzahl der Rohre im Kaliber 155 mm mehr als verdoppeln.

Offenbar hat Deutschland der NATO auch bereits den Aufbau dieser Artilleriekapazitäten angezeigt. Sollten die Wünsche des Heeres erfüllt werden, würden die bisher bestehenden vier Artilleriebataillone vermutlich ebenfalls mehr als verdoppelt.

Da die deutsche Industrie in punkto Artillerie mit der Panzerhaubitze 2000 eines der weltweit leistungsfähigsten Systeme entwickelt hat und die beiden Systemhäuser KMW und Rheinmetall Radartilleriesysteme in unterschiedlichem Reifegrad in der Entwicklung haben, gilt eine nationale Beschaffung als wahrscheinlichste Lösung – nicht zuletzt aufgrund der Forderungslage:  So heißt es denn auch in einer Auftragsbekanntmachung zur „Reifegradanalyse RCH 155“, dass in der neuen Struktur des Heeres „Zielbild Einsatzkräfte Heer“ neue Artillerieeinheiten aufgestellt werden. „Als Ausstattung für diese Einheiten ist ein Artilleriegeschütz 155mm auf Basis eines in die Bundeswehr eingeführten Rad-Fahrgestells vorgesehen.“

Und weiter: Im Rahmen des Projekts „Zukünftiges System Indirektes Feuer mittlere Reichweite“ (ZukSysIndF mRw) solle ein radbewegliches, gepanzertes Artilleriewaffensystem im Kaliber 155mm ausgewählt, gegebenenfalls an die Forderungslage angepasst und beschafft werden.

Insbesondere die auf dem Radpanzer Boxer basierende Radhaubitze RCH 155 von KMW gilt als heißer Kandidat für die zukünftige Ausstattung des Heeres. Nicht zuletzt wegen ihrer Fähigkeiten: So hat das Hersteller-Unternehmen bereits im vorletzten Sommer mit dem System sogar das Schießen aus der Fahrt demonstriert – eine Fähigkeit, über die bislang offenbar kein anderes System verfügt. Vor dem Hintergrund des schnellen Gegenfeuers auf Artilleriestellungen, wie man es in der Ukraine fast täglich beobachten kann, wird dadurch die Überlebenswahrscheinlichkeit der eigenen Soldaten und des Materials erhöht.

In der kürzlich veröffentlichten Bekanntmachung zur Reifegradanalyse RCH 155 heißt es: „In einem ersten Schritt wurde im Rahmen des Projekts eine Marktuntersuchung durchgeführt, mit der Hersteller identifiziert werden sollten, welche in der Lage sind, geeignete Systeme bereitzustellen. Potentielle Systeme, die in diesem Rahmen identifiziert worden sind, sollen im Rahmen einer technologischen Reifegradanalyse (RGA) hinsichtlich verschiedener Aspekte untersucht und bewertet werden.“
Durch die abgeleiteten Kernforderungen nach der von der PzH2000 bekannten L/52-Waffenanlage, einer Maximalbesatzung von zwei Personen und dem Aufbau auf einem in die Bundeswehr eingeführten Trägerfahrzeug als Basis, sei der Markt auf zwei potenzielle Hersteller von Systemen, welche die Kernforderungen erfüllen, eingegrenzt werden:

– Die Firma KMW mit dem System „RCH155“
– Die Firma Rheinmetall Landsysteme GmbH (Fa. RLS) mit dem System „Rheinmetall Radhaubitze“

„Die Marktuntersuchung ergab außerdem, dass von den beiden in Betracht kommenden Systemen nur die RCH155 der Fa. KMW bereits einen ausreichend hohen technologischen Reifegrad aufweist, dass damit praktische Erprobungen (Mobilität und Wirkung) durchgeführt werden können“, heißt es in dem Dokument. Die Firma RLS als weiterer potenzieller Hersteller könne derzeit noch keinen Prototypen bereitstellen, der Untersuchungen hinsichtlich der Wirkung – zur der auch Schussversuche gehören – zulasse. „Aus diesem Grund ist unter Einhaltung des Projekt-Zeitplans eine RGA derzeit nur mit der RCH155 der Fa. KMW möglich.“

Lösung auf LKW nicht erwünscht

Aufgrund einer angewiesenen Berücksichtigung eines potenziellen Kooperationspartners (Großbritannien) bestehe als weitere Einschränkung die Forderung Großbritanniens, dass als Fahrgestell keine auf einem LKW basierende Lösung in Betracht komme.

Die Reifegradanalyse umfasst die zeitlich befristete Miete eines Prototyps zur Erprobung, inklusive des ausgebildeten Personals und der Bereitstellung von Dokumentationen über das System RCH 155mm im Zeitraum Februar bis Mai 2023. Die technische Erprobung soll demnach an den Wehrtechnischen Dienststellen 41 und 91 erfolgen. Laut Mitteilung muss der Prototyp den firmenseitig aktuellen Konstruktionsstand aufweisen und derart eingerüstet sein, dass die geplanten Untersuchungen ohne Einschränkungen durchgeführt werden können.

Außerdem soll KMW Ersatzteile und gegebenenfalls notwendige Sonderwerkzeuge bereitstellen, „welche Instandhaltung und Wartung in einem dem Vorhaben angemessenen, erwartbaren Umfang ermöglichen“. Darüber hinaus wird die Bereitstellung von technischer Dokumentation zu Komponenten, Baugruppen und dem Gesamtsystem, mit dem der Zulassungsstelle ZKfWBw und gegebenenfalls weiteren Stellen der Bw eine sicherheitstechnische Bewertung hinsichtlich der Zulassungsfähigkeit des Systems ermöglicht wird. Das Unternehmen soll auch Daten, Dokumentation und Berichte zu bereits durch den durchgeführten Untersuchungen und Erprobungen zur Verfügung stellen.

Die Begründung der Auswahl der RCH 155 für die Reifegradanalyse zeigt, dass Hersteller KMW offenbar mit seinen Arbeiten an einer Radhaubitze weiter vorangeschritten ist als Rheinmetall. Der Düsseldorfer Konzern entwickelt im Augenblick zusammen mit dem israelischen Konzern Elbit im Rahmen eines Integrationsvorhabens einen Systemdemonstrator Radhaubitze. Dem Konzern zufolge basiert diese Radhaubitze  auf einsatzerprobten Subsystemen, wie zum Beispiel der Rheinmetall L52 HRM, der Mobilitätsplattform HX 10×10 und sich derzeit in der Qualifikation befindlichen Subsystemen wie  dem Elbit-Artillerieturm, der Abstützplattform sowie dem Munitionsfluss. Ziel sei es, ab 2025 eine Verfügbarkeit für den Markt herzustellen, so Rheinmetall.

Auch wenn die Bundeswehr jetzt offenbar Druck bei der Auswahl einer Radhaubitze macht, wird sie wie bereits beim Luftverteidigungssystem Iris-T SLM jedoch aller Voraussicht nach nicht der erste Nutzer der RCH 155 sein, sondern die ukrainischen Streitkräfte. So hat die Ukraine 18 Radhaubitzen dieses Typs bei KMW fest geordert, wie aus der aktuellen Liste der militärischen Unterstützungsleistungen für die Ukraine hervorgeht. Finanziert werden die Waffensysteme aus dem Einzelplan 60 des Bundeshaushalts, der unter anderem für die Unterstützung der Ukraine vorgesehen ist. Wann die Systeme geliefert werden, ist – vermutlich aus Geheimhaltungsgründen – nicht bekannt.

Während andere Länder wie Polen ihre Artilleriekapazitäten schnell ausbauen wollen, ist in Deutschland das Thema bislang nicht im Sondervermögen abgebildet.  Das deutet darauf hin, dass die Beschaffung erst in der zweiten Hälfte dieser Dekade vorgesehen ist – trotz des Krieges in der Ukraine und der daraus resultierenden Bedrohung des NATO-Bündnisgebietes.
lah/6.2.2023