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2019 soll die Entscheidung bringen

Der in den vergangenen Jahren immer wieder von Verzögerungen gekennzeichnete  Beschaffungsprozess  für ein Taktisches Luftverteidigungssystem (TLVS) der Bundeswehr  scheint  in die finale Phase zu steuern.  Noch im  ersten Quartal 2019 will die als Generalauftragnehmer fungierende TLVS-GmbH – ein Joint Venture von MBDA und Lockheed Martin – ein abschließendes Angebot für das Gesamtsystem an das Bundeswehr-Beschaffungsamt BAAINBw übermitteln.

Bis Ende des kommenden  Jahres  soll das Vorhaben dann zwischen BAAINBw und TLVS GmbH ausverhandelt werden und die zuständigen Ausschüsse des Bundestages passieren. Mittlerweile wurde TLVS auch in die Finanzplanung des Bundes aufgenommen: Bis zum Jahr 2031 sind Verpflichtungsermächtigungen in den Haushalt eingestellt. Diese betragen im Augenblick zwar  nur eine Mio EUR pro Jahr, können bei Realisierung von TLVS allerdings aufgestockt werden. Voraussetzung ist, dass sich die Beschaffung des Schweren Transporthubschraubers verzögert. Dann können  aus diesem Titel – der immerhin 5,6 Mrd EUR umfasst –  Mittel für die Luftverteidigung umgewidmet werden.

Das BAAINBw hatte der TLVS GmbH bereits Mitte August 2018 die zweite Angebotsaufforderung – das so genannte Request for Proposal (RFP) – übermittelt. Im Rahmen der danach angelaufenen Angebotserstellung hat das Joint Venture von MBDA und Lockheed Martin seinerseits seine  Unterauftragnehmer zur Abgabe ihrer Angebote aufgefordert. Diese sollen dem Vernehmen nach Anfang 2019 eingehen. Nach Angaben von MBDA sind bei TLVS mehr als einhundert Firmen auf unterschiedlichen Ebenen eingebunden.  Beobachter gehen allerdings davon aus,  dass womöglich nicht alle Unterauftragnehmer zum festgesetzten Termin eine Rückmeldung geben können. Während zahlreiche Komponenten für TLVS bereits festgelegt sind, gibt es andere, bei denen das Joint Venture dem Beschaffungsamt einen Vorschlag machen muss. Dazu gehört unter anderem das zukünftige  Mittelbereichsradar.

Weitbereichsradar scheint gesetzt

Bei den Sensoren haben sich die Beschaffer offenbar  für die Nutzung eines UHF-Weitbereichsradars von Lockheed  Martin entschieden, dessen Entwicklung bereits im Rahmen des trinationalen MEADS-Projektes zwischen den USA, Italien und Deutschland begonnen wurde. Nach Aussage von Dietmar  Thelen, Geschäftsführer der TLVS GmbH, wurde bei dem Sensor ein Frequenzband und eine Geometrie festgelegt, die eine hohe Reichweite ermöglichen.

Gesetzt ist überdies das so genannte Multifunction  Fire Control Radar (MFCR), das zur Lenkung des Boden-Luft-Flugkörpers PAC 3 MSE von Lockheed Martin dient.  Das MFCR-Radar ist nach Aussage von Thelen das komplexeste System innerhalb von TLVS mit vier wesentlichen Funktionsbausteinen.  Eingebunden in die Fertigung des Radars seien neben  Lockheed Martin und MBDA auch Hensoldt und Leonardo. Dem Vernehmen nach werden die beiden letzteren Unternehmen für ihren Anteil ein Gemeinschaftsangebot  abgeben. Leonardo und Hensoldt arbeiten bereits in mehreren Bereichen zusammen, etwa bei der IFF-Technologie und dem Radar für den Eurofighter. Gerade bei letzterem sehen Beobachter vor dem Hintergrund möglicher  industrieller Verschiebungen mit Interesse dem kommenden Jahr entgegen.

Abwehr ballistscher Raketen im Fokus

Die Kombination aus MFCR und PAC-3 MSE soll es ermöglichen, in Zukunft auch taktische ballistische Raketen abzuwehren. Dabei leitet das Radar den Flugkörper zunächst in Zielnähe. Der PAC-3 MSE nutzt in der Endphase seinen eigenen Radarsuchkopf, um das angreifende Flugobjekt zu bekämpfen. Dabei zerstört er sein Ziel mittels kinetischer Energie. Nach Angaben von Lockheed-Martin-Experten ist der Lenkflugkörper so präzise, dass er genau auf den Abschnitt der anfliegenden Rakete wirkt, in dem der  Sprengkopf vermutet wird. Bei einem Treffer wird so viel Energie freigesetzt, dass ein Sprengkopf im Idealfall pulverisiert wird ohne zu detonieren. So jedenfalls die Theorie.

Durch die Kombination der beiden Sensoren mit dem PAC-3 MSE deckt  dieser Flugkörper laut Angaben des Herstellers einen wesentlich größeren Raum ab als bei Einbindung in das Patriot-System. Begründet wird dies unter anderem damit, dass Gefahren früher entdeckt und damit auch die Bekämpfung früher eingeleitet werden kann.

Allerdings gibt es im Augenblick Differenzen zwischen Deutschland und den USA hinsichtlich des PAC-3 MSE, der außerhalb des trinationalen MEADS-Vorhabens entwickelt wurde. Im aktuellen Rüstungsbericht heißt es dazu:  Bei  den  für TLVS erforderlichen US-Rüstungsgütern sei für eine Freigabe ein in der Koordination anspruchvolles, „Foreign Military Sales“ (FMS)-Verfahren zu durchlaufen. Und weiter : „Die Sensitivität der hier in Rede stehenden Rüstungsgüter begründet die bislang sehr restriktive Haltung US-amerikanischer Regierungsstellen, der auf deutscher Seite mit einem intensiven und konzertiertem Dialog auf mehreren Ebenen begegnet wird.“

USA wollen nicht alle Daten weitergeben

Einem Bericht des US-Magazins Defense News zufolge geht es konkret darum, dass die Vereinigten Staaten ein Simulationsmodell für die PAC-3  den deutschen Streitkräften nicht zur Verfügung stellen wollen. In der am höchsten entwickelten Ausführung soll dieses Modell das Verhalten der Abfangrakete in Bezug auf die Leistungsdaten angreifender feindlicher Flugkörper  darstellen.  Daten, die laut Defense News oftmals durch Spionage gewonnen wurden. Sollten die Informationen zur Leistungsfähigkeit der PAC-3 MSE in die falschen Hände gelangen, könnten damit womöglich Schwachpunkte einer ganzen Klasse von Abfangraketen  ausgenutzt werden, schreibt der Autor des Artikels.

Laut Defense News bieten die US-Steitkräfte lediglich an, eine abgespeckte Version des Simulationsmodells nach Deutschland zu transferieren. Die Vollversion verbleibe dagegen in den Vereinigten Staaten. Gegebenenfalls  könnten deutsche Partner Simulationen unter Aufsicht der US-Streitkräfte in den USA ausführen.

Ein MBDA-Sprecher bestätigte die Aussagen des Artikels. Er betonte allerdings, dass die Verfügbarkeit von Simulationsdaten keinen Einfluss auf die Leistungsfähigkeit des Flugkörpers habe.  Seinen Worten zufolge ist vor Weihnachten nicht mehr mit einer Lösung des Problems zu rechnen.

Bedrohung durch Hypersonic-Flugkörper

Experten sehen in Zukunft die Entwicklung von so genannten Hypersonic-Flugkörpern, die mehr als die fünffache Schallgeschwindigkeit erreichen, als neue Bedrohung. Es wird vermutet, dass Russland und China bereits an diesen Waffen arbeiten, die mit extrem hoher Geschwindigkeit fliegen und damit Bekämpfungszeiten deutlich verkürzen. Obwohl die beteiligten Unternehmen dazu nichts verlauten lassen, gehen Beobachter davon aus, dass bei der Konzeption von TLVS diese zukünftige Waffe bereits berücksichtigt und das System darauf abgestimmt wurde.

Abweichend von der ursprünglichen MEADS-Architektur hat sich die Bundeswehr dazu entschlossen, die Iris-T SL von Diehl als Zweitflugkörper für TLVS einzuführen. Diese mit einem passiven Infrarotsuchkopf ausgerüstete Rakete und einer Reichweite von mehreren Dutzend Kilometern wird von einem Radar in Zielnähe gelenkt. Erst im Endanflug schaltet sich der Suchkopf auf.

Vor allem für die Nutzung mit der Iris-T SL soll das Mittelbereichsradar in TLVS eingebunden werden. Nach  Aussage von Thelen ist der Mittelbereichssensor in der Lage, sowohl Such- als auch Feuerleitaufgaben zu übernehmen. Dabei profitiere das Radar vom  Informationszufluss aus den übergeordneten Sensoren.

Nach den Vorstudien befinden sich drei Mittelbereichsradare  in der engeren Auswahl. Dabei handelt es sich um das TRML-4D von Hensoldt im C-Band, das Giraffe 4A von Saab  im S-Band sowie das Multi-Mission-Radar (MMR) von Thales, ebenfalls  im S-Band. Wie es bei Redaktionsschluss aus gut informierten Kreisen hieß, planen die niederländischen Streitkräfte, das Thales-Radar zu beschaffen. Bei der bodengebundenen Luftverteidigung sind im Rahmen des Projektes Apollo deutsche Einheiten den Niederländern unterstellt.

Bei den Mittelbereichsradaren gebe es einen fairen Wettbewerb, betonte MBDA-Manager Thelen. Denn die Bewertungsformel und Kriterien seien einsehbar. Die Forderung sei, die wirtschaftlichste Lösung auszuwählen. Im Oktober seien alle drei Anbieter zu Angeboten aufgefordert worden. „Wir erwarten vielleicht noch Ende Dezember aber spätestens Anfang Januar die Rückläufer“, sagte Thelen. Für Anbieter könnte sich dabei womöglich auszahlen, wenn bereits Integrationsarbeiten zwischen Radarhersteller und Iris-T SL erfolgt sind.

Ein Pluspunkt für Hensoldt wäre in diesem Zusammenhang, dass das Unternehmen gemeinsam  mit Diehl, Airbus und Rohde&Schwarz einen Auftrag zur Lieferung eines Luftverteidigungssystems nach Ägypten erhalten hat. Im Rahmen dieses Kontraktes muss das Radar integriert werden. Ein Fakt , der zur Risikominimierung beiträgt.

Elektrooptischer Sensor vorgesehen

Um dem Operateur am Boden neben den genannten Radaren ein weiteres Instrument  zur Zielauswahl an die Hand zu geben, soll im Rahmen von TLVS überdies ein elektrooptischer Sensor in Europa oder Israel beschafft werden. Als Lieferanten kommen gut informierten Kreisen zufolge Telefunken Racoms, Hensoldt und die schwedische Trakka AB in Frage.

Nach Aussage von Thelen wird die Luftlage immer komplexer,  eine klare Gefechtsordnung sei nicht mehr gegeben. „Sie können sich nicht mehr auf die IFF-Abfrage alleine verlassen“, betonte der MBDA-Manager.  Denn mitunter  komme die Antwort des Flugzeugs  auf diese Freund-Feind-Abfrage nicht durch. Das mache es schwierig, eine Entscheidung zu treffen.  Es werden so viele Informationen wie möglich benötigt, um eine Entscheidung treffen zu können.  „Der elektrooptische Sensor ist eine weitere Möglichkeit dem Operateur auf der letzten Meile weitere Informationen anzubieten“, erläuterte Thelen. Dieser werde ebenfalls von den anderen Sensoren eingewiesen.

Unter Einbeziehung des neuen elektrooptischen-Sensors könnte eine idealtypische Systemkonfiguration für TLVS folgendermaßen aussehen: Ein großes Suchradar, zwei MFCR, zwei Mittelbereichssensoren, zweimal vier Werfer – das heißt vier Iris-T-Werfer und vier PAC-3-Werfer mit jeweils acht Raketen – , zwei voll ausgebildete Feuerleitzentralen oder TOCs (Tactical Operations Centre) – zur überschlagenden Verlegung.  Jedes TOC soll über  einen eigenen elektroptischen Sensor verfügen. Von dieser idealtypischen Konfiguration sind laut Hersteller allerdings je nach Mission Abweichungen möglich. So könnte bei Bedarf auch nur TOC, Mittelbereichsradar und Iris-T-Werfer genutzt werden.

Sollte Deutschland im kommenden Jahr wie geplant die Entscheidung zur Beschaffung von TLVS fällen, dürften sich womöglich noch weitere Länder für das System oder Teile davon entschieden.  Zahlreiche Streitkräfte befreundeter Staaten sollen in den vergangenen Jahren bereits Interesse bekundet haben. Lockheed Martin und MBDA könnten die Auslandsmärkte dann gemeinsam bearbeiten.

Als Kunden in Frage kämen in erster Linie NATO-Staaten und solche, die mit der NATO assoziiert sind. Dabei hält es MBDA auch für denkbar, dass Nationen bei der Beschaffung, der Lagerung und Logistik von bestimmten Bauteilen zusammenarbeiten. Als Plattform würde sich dafür die NATO Support and Procurement Agency (NSPA) anbieten.
lah/20.12.2018

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