Anzeige

Produktion von Patriot-Flugkörpern in Deutschland?

Russische Flugzeuge, Hubschrauber, Raketen und Marschflugkörper greifen täglich eine Vielzahl von Zielen in der Ukraine an und treffen dabei – absichtlich oder unbeabsichtigt – immer wieder nicht militärische Einrichtungen. Hohe Opferzahlen bei den ukrainischen Streitkräften und der Zivilbevölkerung sind die Folge. Dass der Bundeskanzler vor diesem Hintergrund das Luftverteidigungssystem Iris-T SLM der ukrainischen Regierung zum Schutz einer Großstadt anbietet, ist nur logisch, wirft aber auch ein Schlaglicht auf die desolate Lage der deutschen Flugabwehr. Denn das versprochene System war eigentlich für einen Exportkunden vorgesehen – die Bundeswehr hat die moderne Iris-T SLM mit einer Reichweite von etwa 40 Kilometern gar nicht im Bestand.

Etwas besser sieht es zwar bei Flugabwehr größerer Reichweite aus, wofür die Luftwaffe das System Patriot einsetzt. Aber auch hier ist die Ausstattung mit zwölf Batterien nicht wirklich ausreichend, wenn berücksichtigt wird, dass für eine 360-Grad-Rundumverteidigung drei Batterien erforderlich sind und die Bundeswehr im Kalten Krieg noch über 36 Feuereinheiten verfügte. Die Lage ist offenbar dermaßen angespannt, dass selbst der Unterstützungseinsatz der deutschen Patriot-Kräfte in der Slowakei dem Vernehmen nach nicht dauerhaft durchhaltefähig sein soll.

Bestände sind begrenzt

Das gleiche dürfte für die Ausstattung mit Munition, also den Patriot-Abfangraketen, gelten. In der Vergangenheit kursierten in den Medien Zahlen, wonach sich zwischen 500 und 800 Stück des Lenkflugkörpers vom Typ PAC-2 in den Magazinen der Luftwaffe befinden sollten. Treffen die Berichte zu, wonach Russland allein bis zum Monat Mai über 2.000 Raketen auf die Ukraine abgefeuert hat, wird deutlich, wie weit die Bundeswehr mit ihrem Bestand kommen würde. Zumal oftmals zwei Abwehrraketen auf ein Ziel gelauncht werden, um die Abfangwahrscheinlichkeit zu erhöhen.

Der Bedarf an zusätzlichen Patriot-Flugkörpern ist also offenkundig, zumal Deutschland in Europa eine führende Rolle bei der Luftverteidigung einnehmen will. Auch qualitativ müsste aufgeholt werden, denn die Variante PAC-2 entspricht nicht mehr dem Stand der Technik. So werden neue Mitglieder im Patriot-Club, wie Schweden oder die Schweiz, die moderne Version PAC-2 GEM/T erhalten. Die Bundeswehr rüstet dagegen nur eine begrenzte Anzahl ihrer PAC-2 auf den Standard GEM/T für den Einsatz bei der NATO-Speerspitze oder VJTF 2023 hoch. Das Projekt soll gegenwärtig noch laufen.

Da das BMVg für die Beschaffung von Munition 20 Milliarden Euro projektiert und im Sondervermögen der Bundeswehr die bodengebundene Luftverteidigung als einen Schwerpunkt gesetzt hat, muss sich die Industrie zwangsläufig Gedanken machen, was dies für die eigene Strategie bedeutet.

Sollte sich das Verteidigungsministerium dazu entschließen, den Bestand an Patriot-Lenkflugkörpern zu erhöhen, könnte es direkt beim Hersteller Raytheon bestellen, der die Lenkwaffen in seinem US-Werk bauen würde. Fraglich ist jedoch, welche Zeitlinien mit einer solchen Produktion verbunden wären, da aufgrund der angespannten internationalen Sicherheitslage die Nachfrage nach Patriot-Flugkörpern nach oben zeigen dürfte und im Mittleren Osten Patriot-Systeme im scharfen Einsatz sind, was zu Ersatzbedarf führt.

NSPA könnte wichtige Rolle übernehmen

Eine Alternative könnte es sein, eine Produktionslinie in Europa aufzubauen, wo auch die meisten Patriot-Nutzernationen beheimatet sind. Wie es aus gut informierten Kreisen heißt, denken über eine solche Option gegenwärtig die Unternehmen Raytheon und MBDA Deutschland tatsächlich nach. Dabei soll es um die Fertigung der modernen Variante PAC-2 GEM/T in einem Gemeinschaftsunternehmen gehen. Beide Partner betreiben seit vielen Jahren das Joint Venture COMLOG Gesellschaft für Logistik mbH, das alle in Europa genutzten Patriot-Flugkörper, darunter auch jene der US-Streitkräfte, wartet. In diesem paritätischen Gemeinschaftsunternehmen am Standort Schrobenhausen könnte womöglich die Fertigung eingerichtet werden, wie es heißt. Den Kreisen zufolge würde die Abwicklung der Aufträge über die NATO Support and Procurement Agency (NSPA) erfolgen, über die bislang auch die Wartung von Patriot-Effektoren gemanagt wird.

Sollten diese Pläne zutreffen und es zu einer Umsetzung kommen, lägen die Vorteile auf der Hand: Ein Teil der Wertschöpfung würde in Europa verbleiben. Gleichzeitig entstünden hierzulande Fertigungskapazitäten und Know-how, was die Abhängigkeit vom Ausland ein Stück weit reduzieren und die industrielle Resilienz – auch für andere Produkte – erhöhen würde. Was passiert, wenn ein Land über keine nennenswerten Rüstungskapazitäten mehr verfügt, lässt sich gerade in der Ukraine beobachten.

Da es offenbar bereits in der Vergangenheit eine Fertigung von Patriot-Flugkörpern in Deutschland gab, die allerdings eingestellt wurde, ließe sich perspektivisch daran anknüpfen. So gehen Beobachter davon aus, dass die MBDA-Tochter Bayern-Chemie – ein Spezialist für Flugkörperantriebe – den Raketenmotor für die PAC-2 GEM/T herstellen könnte. Überdies verfügt MBDA mit dem Tochterunternehmen TDW noch über ein auf Gefechtsköpfe spezialisiertes Unternehmen.

Mindestbestellmenge erforderlich

Für den Aufbau einer Produktionslinie in Schrobenhausen muss dem Vernehmen nach jedoch eine wichtige Vorbedingung erfüllt sein: Die Sicherstellung einer Mindestbestellmenge. Denn für den Aufbau einer Fertigung, für die Experten drei bis vier Jahre veranschlagen, gelten betriebswirtschaftliche Grundsätze. Beobachter vermuten, dass eine Mindestbestellmenge im hohen dreistelligen Bereich erforderlich sein könnte, damit sich eine solche Investition rechnet. Würde Deutschland quasi als Ankerkunde auftreten und andere europäische Patriot-Nutzer über die NSPA hierzulande beschaffen, dürfte dies jedoch im Bereich des Möglichen liegen. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass es sich für die NSPA um Neuland handelt, da sie bisher nur für die Wartung zuständig ist.

Fachkreisen zufolge können die im Bestand der Bundeswehr befindlichen Patriot-Raketen nach über 40 Jahren im Betrieb nicht mehr in der Nutzung verlängert werden und müssten in der kommenden Dekade ausgemustert werden. Da das Vorhaben Taktisches Luftverteidigungssystem (TLVS) offiziell zwar auf Eis liegt, de facto jedoch tot sein dürfte, wird die Luftwaffe aller Voraussicht nach an Patriot festhalten und entsprechende Effektoren benötigen. Das würde ein weiteres Argument für eine Produktion in Deutschland liefern.

Bis es soweit kommt, müssen sich die politisch und militärisch Verantwortlichen allerdings die Karten legen und konkrete Beschaffungspläne aufstellen. Wobei klar ist, dass die bodengebundene Luftverteidigung nicht das einzige Vorhaben mit hoher Priorität für die Bundeswehr ist.
lah/4.7.2022