Europa steht in den kommenden Jahren vor zwei unterschiedlichen Herausforderungen im Bereich der Abschreckung.
Erstens werden die europäischen NATO-Staaten wahrscheinlich irgendeine Form von „Abschreckungsstreitkräften“ mobilisieren müssen, die in der Lage sind, in die Ukraine zu verlegen, um einen Waffenstillstand oder eine Friedensregelung zu garantieren, sofern Russland in der Ukraine nicht überzeugend besiegt wird – eine Aussicht, die zum jetzigen Zeitpunkt unwahrscheinlich erscheint.
Zweitens muss die NATO angesichts der erkennbar revisionistischen Bestrebungen Russlands und der eindeutigen Signale, dass es sich nicht auf die Ukraine beschränken wird, darauf vorbereitet sein, jeden direkten Angriff auf einen Mitgliedstaat abzuschrecken. Im Idealfall und in Anbetracht der hohen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Kosten, die selbst mit einer kurzfristigen russischen Besetzung verbunden sind, bedeutet dies den Aufbau einer glaubwürdigen Vorwärtsverteidigung, die einen russischen Angriff bereits an der Bündnisgrenze stoppen kann.
Dies sind zwei große Herausforderungen für die europäischen Entscheidungsträger und Gesellschaften. Angesichts des derzeitigen Zustands der europäischen Streitkräfte wäre jede dieser Aufgaben für sich genommen schon gewaltig. Zusammengenommen werfen sie ernste Fragen auf, nicht nur hinsichtlich des politischen Willens der europäischen Staats- und Regierungschefs – der bisher weitgehend unzureichend ist –, sondern auch hinsichtlich ihrer Kapazitäten. Dies ist besonders besorgniserregend, da die russische Wiederaufrüstung bereits im Gange sein könnte.
Russisches Mobilisierungsmomentum?
Insgesamt sehen die makroökonomischen Indikatoren für Russland kurz-, mittel- und langfristig weiterhin düster aus. Kurzfristig belasten die hohe Inflation, die hohen Zinssätze, die schwache Währung und die sinkenden Ölpreise die Wirtschaft, was sich sowohl auf den Durchschnittsbürger als auch auf die Regierungsgeschäfte auswirkt.
Mittelfristig schränkt die Übermobilisierung von Arbeitskräften und Ressourcen die weitere Expansion der Kriegswirtschaft ein und treibt die Kosten aufgrund von Arbeits- und Materialknappheit in die Höhe.
Langfristig wird das Ausmaß der russischen Verluste in der Ukraine die ohnehin fragilen demografischen Aussichten schwer belasten. Hunderttausende von Männern, die gefallen sind, werden nicht mehr zur Erwerbsbevölkerung beitragen. Diejenigen, die verstümmelt, anderweitig beeinträchtigt oder psychisch belastet zurückkehren, werden das Sozialversicherungs- und Rentensystem voraussichtlich eher belasten als stützen. In Verbindung mit dem begrenzten Zugang zu fortschrittlichen Technologien und der schwachen Innovationskraft beeinträchtigen diese Faktoren Russlands künftige wirtschaftliche Wachstumsaussichten grundlegend.
Dennoch stellt die derzeitige gesellschaftliche und industrielle Mobilisierung Russlands sowohl für die Ukraine als auch für Europa eine Herausforderung dar. Trotz der hohen Verluste scheinen die russischen Streitkräfte in der Lage zu sein, weiter zu wachsen und Reserven für mögliche künftige Eventualitäten, auch gegen die NATO, aufzubauen.
Relativ neue Geheimdienstberichte deuten darauf hin, dass Russland nicht nur genug Personal mobilisiert hat, um Kampfverluste auszugleichen, sondern auch, um seine Streitkräfte weiter auszubauen. Westliche Beobachter haben ebenfalls festgestellt, dass Russland mehr Ausrüstung und Munition – einschließlich moderner Panzer (für russische Verhältnisse) und Artilleriegranaten – produziert, als es derzeit an die Front schickt.
Dieser Punkt ist von entscheidender Bedeutung. Die russischen Truppen an der Front scheinen oft schlecht ausgerüstet zu sein. In den letzten Monaten sind Aufnahmen aufgetaucht, die Angriffe über offenes Gelände mit zivilen Autos, Bussen, Mopeds, Traktoren und sogar E-Scootern zeigen, die von den ukrainischen Verteidigern oft schnell zerstört werden. Berichte über die russischen Produktionskapazitäten deuten jedoch darauf hin, dass Russland diese Truppen besser ausrüsten könnte; es aber einfach nicht tut. Putin und sein Umfeld, die generell keine Rücksicht auf Menschenleben nehmen und für die Produktionskapazitäten einen größeren Engpass darstellen als die Mobilisierung von militärischem Personal, betrachten die derzeitigen Verluste an Menschenleben wahrscheinlich als akzeptabel und räumen der Bevorratung von Ausrüstung für künftige Operationen und Eventualitäten Vorrang ein.
Dies stellt für die NATO ein ernstes Problem dar. Westliche Analysten und Entscheidungsträger haben wiederholt davor gewarnt, dass die Bedrohung für die NATO erheblich zunehmen wird, sobald der Krieg in der Ukraine beendet ist und Russland in der Lage ist, seine Streitkräfte neu zu formieren. Wenn es Russland gelingt, während des Krieges aufzurüsten, verkürzt sich das Zeitfenster für die Aufrüstung Europas.
Eine Abschreckungs-Truppe für Europa und die Ukraine
Eine groß angelegte europäische Aufrüstung ist aus zwei Gründen notwendig: Erstens muss die NATO in der Lage sein, ihr Territorium in einem zukünftigen Krieg vorwärts zu verteidigen. Zweitens muss Europa in der Lage sein, eine wirksame Abschreckungstruppe zusammenzustellen, die zur Unterstützung eines Waffenstillstands oder einer Friedensregelung in die Ukraine verlegt werden kann.
Die Strategie der NATO im Osten basierte bisher eher auf einer Vorwärts-Präsenz als auf einer Vorwärts-Verteidigung. Besonders deutlich wird dies im Baltikum, wo jeder Staat lediglich ein bis zwei kampfbereite Brigaden unterhält, die durch eine NATO-Battle Group in Bataillons- oder Brigadestärke verstärkt werden. Es ist unwahrscheinlich, dass diese nationale und internationale Präsenz ausreicht, um Russland vollständig davon zu überzeugen, dass ein entschlossener Angriff an der ersten Kontaktlinie gestoppt werden würde.
Das ist aus zwei Gründen eine schlechte Nachricht. Erstens könnte, je nach dem von Russland angenommenen Szenario, bereits ein erster Vorstoß über die Grenze ausreichen, um vollendete Tatsachen zu schaffen und das neu besetzte Gebiet aggressiv zu „sankturisieren“ – also klar zu signalisieren, dass jeder Versuch der NATO, es zurückzuerobern, eine nukleare Eskalation auslösen würde. Zweitens hat der Krieg in der Ukraine gezeigt, dass selbst kurze Phasen russischer Besatzung mit großflächigem Tod und Zerstörung einhergehen.
Die informelle Doktrin des „Stolperdrahtes mit anschließendem Gegenangriff“, auf die sich die NATO heute effektiv stützt, reicht dementsprechend nicht mehr aus. Um jedoch eine glaubwürdige Vorwärtsverteidigung aufzubauen, müssen die europäischen NATO-Staaten ihre Präsenz entlang der Ostflanke erheblich verstärken, insbesondere in den baltischen Staaten, die nach wie vor das schwächste Glied in der Frontlinie sind – nicht wegen des mangelnden Engagements der baltischen Staaten, sondern aufgrund der ihnen innewohnenden personellen und finanziellen Beschränkungen sowie der fehlenden strategischen Tiefe.
Es ist schwierig abzuschätzen, welcher Kräfteansatz für den Aufbau einer Vorwärtsverteidigung erforderlich ist. Im Allgemeinen geht man davon aus, dass ein Angreifer mindestens einen Kräfteverhältnis von 3:1 benötigt, um den zur Verteidigung eingerichteten Gegner erfolgreich überwinden zu können, obwohl das Kräfteverhältnis abhängig von Geografie, Truppenzusammensetzung und anderen operativen Faktoren variieren kann. Eine Überlegenheit bei Artillerie oder Langstreckenwaffen kann beispielsweise das erforderliche Verhältnis in die eine oder andere Richtung verschieben.
Der Einsatz von Streitkräften wird auch durch das sogenannte Kraft-Raum-Verhältnis begrenzt. Einfach ausgedrückt: Die Anzahl der Truppen, die in einem bestimmten Gebiet konzentriert werden kann, hängt vom verfügbaren Raum ab, der in erster Linie durch geografische Gegebenheiten und die Verkehrsinfrastruktur bestimmt wird. Für die NATO bedeutet dies, dass sie wahrscheinliche Angriffspunkte identifizieren und abschätzen muss, welche maximale Streitmacht Russland dort realistischerweise einsetzen könnte, sowohl im Falle eines Überraschungsangriffs als auch bei längerer Vorbereitung. Gleichzeitig muss sie sicherstellen, dass ihre eigene Aufstellung dem Angreifer keinen Kräftevorteil von 3:1 ermöglicht, wobei kompensierende Fähigkeiten entsprechend mitgedacht werden müssen.
Es würde den Rahmen dieses kurzen Beitrags sprengen, eine genaue Einschätzung dessen vorzunehmen, was für die Operationalisierung einer Vorwärtsverteidigung erforderlich ist, aber es ist ziemlich klar, dass die derzeitigen im Baltikum präsenten Streitkräfte nicht ausreichen. Die von Deutschland geplante Entsendung einer kompletten Panzerbrigade nach Litauen – bis 2027 sollen 4.800 voll ausgerüstete Soldaten zur Verfügung stehen – ist eine positive Entwicklung. Doch selbst diese Stationierung ist eher ein politisches Signal, das den Stolperdraht verstärkt, als eine eigenständige Maßnahme, die Litauen (und seine Nachbarn) vorwärts verteidigen kann. Mit ziemlicher Sicherheit werden im gesamten Baltikum und in Osteuropa mehrere zusätzliche Brigaden erforderlich sein, insbesondere wenn die Vereinigten Staaten ihre militärische Präsenz auf dem Kontinent reduzieren.
Gleichzeitig wird Europa vor der Aufgabe stehen, eine „Abschreckungs“-Truppe für die Ukraine aufzustellen – eine Truppe, die einen Waffenstillstand oder ein Friedensabkommen durchsetzen kann, indem sie von einer erneuten russischen Aggression abschreckt. Es besteht zwar noch erhebliche Unsicherheit darüber, was eine solche Truppe zu tun hätte und wozu sie in der Lage sein müsste, aber sie dürfte wahrscheinlich mindestens 20.000 bis 40.000 Soldaten oder etwa sechs bis zwölf Brigaden umfassen, die in der Lage sein sollten, in der Ukraine Operationen mit hoher Intensität durchzuführen.
Insgesamt bedeutet dies wahrscheinlich, dass die NATO etwa zehn bis zwanzig zusätzliche Brigaden mobilisieren muss – und zwar eher früher als später, insbesondere wenn Russland sein derzeitiges Aufrüstungsmomentum beibehält oder beschleunigt (abhängig vom Verlauf des Krieges in der Ukraine). Dies setzt die Fähigkeit voraus, festgefahrene Beschaffungszyklen in Friedenszeiten, Rekrutierungslücken und den innenpolitischen Widerstand gegen die Ausweitung der gesellschaftlichen Mobilisierung zu überwinden. Dies sind nicht nur technische Hürden – sie sind zutiefst politisch und in vielen europäischen Staaten unpopulär. Erschwerend kommt hinzu, dass es den europäischen Staaten an der allgemeinen Infrastruktur fehlt, die für ein solches Anwachsen der Streitkräfte erforderlich ist.
Neue und wieder eingeführte Technologien können vielleicht eine gewisse Erleichterung bringen und den Personalbedarf verringern. Drohnen die auf taktischer und operativer Ebene agieren können in Verbindung mit Antipersonen- und Panzerabwehrminen erheblich dazu beitragen, ein Umfeld der „anhaltenden Abwehr“ (im Englischen: „persistent denial“) zu schaffen. Dennoch sind sie kein Allheilmittel. Man darf auch nicht vergessen, dass Russland nicht nur mehr Erfahrung mit dem Einsatz dieser Art von Systemen hat, sondern auch wesentlich mehr Erfahrung darin, sie zu überwinden.
Letztendlich besteht das Hauptproblem Europas bei der Aufrüstung darin, dass seine demografischen, wirtschaftlichen und industriellen Aussichten zwar mittel- bis langfristig eindeutig besser sind als die Russlands, die kurzfristigen Aussichten aber derzeit Russland begünstigen. Und wenn Europa nicht handelt, ist es die kurze Frist, auf die es letztlich ankommen könnte.
Autor: Fabian Hoffmann ist Doktorand am Oslo Nuclear Project an der Universität Oslo. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Verteidigungspolitik, Flugkörpertechnologie und Nuklearstrategie. Der Beitrag erschien erstmalig am 4.05.2025 in englischer Sprache im „Missile Matters“ Newsletter auf Substack.