Wenn es darum geht, Erfahrungen aus Einsätzen und Kriegen zu ziehen, ist es ratsam, die Analyse nicht nur auf die eigene Seite zu beschränken. Schon der griechische Philosoph Sokrates sagte: „Der Kluge lernt aus allem und von jedem, der Normale aus seinen Erfahrungen und der Dumme weiß alles besser.“ In diesem Zusammenhang ist es daher von besonderem Interesse, welche Rückschlüsse die russische Seite aus dem Ukrainekrieg zieht. Einen Einblick gewährt ein jüngst auf der im russischen Staatsbesitz befindlichen Nachrichtenagentur Ria Novosti erschienener Beitrag, der sich mit der schwindenden Rolle des Kampfpanzers im Ukrainekrieg beschäftigt. Auch wenn die Gültigkeit der Aussagen nicht überprüfbar sind, lohnt sich eine Auseinandersetzung allemal.
Der Beitrag basiert auf einem Interview mit Viktor Murachowski, dem Chefredakteur der russischen Militärfachzeitschrift „Арсенал Отечества“ (Arsenal des Vaterlandes), der Ria Novosti zufolge als einer der führenden russischen Militärexperten gilt.
Murachowskis Analyse zufolge zeigen die in der Ukraine gemachten Erfahrungen, dass der moderne Kampfpanzer seine Rolle auf dem Gefechtsfeld zu verlieren beginnt. Um diesen Trend umzukehren, bedarf es seiner Ansicht zufolge eine erhebliche Modernisierung russischer Kampfpanzer.
„Hauptaufgabe der Kampfpanzer ist der Kampf gegen feindliche Panzerverbände im offenem Gelände“, so beschreibt beispielsweise die Bundeswehr auf ihrer Webseite die Rolle von Kampfpanzern. Panzer gelten allgemein hin als die perfekte Balance zwischen Mobilität, Schutz und Feuerkraft. Das Panzergefecht wird daher in aller Regel dynamisch geführt, wo die Systeme die überragende Waffenwirkung und volle Stoßkraft entfalten können.
Murachowski zufolge ist in der Ukraine das Gegenteil zu beobachten, wo die Kampfpanzer zunehmend als „Waffenlafette“ genutzt werden und mit Aufgaben betraut werden, welche klassischerweise der Artillerie obliegen. Zudem bestätigen die Aussagen im Interview was viele westliche Beobachter des Ukrainekrieges bereits seit geraumer Zeit auf Basis von offen zugänglichen Informationen angesprochen haben: Kampfpanzer werden zumeist nur einzeln für singuläre Scharmützel eingesetzt. Der Einsatz mehrere Panzer oder gar geschlossener Verbände findet kaum statt.
Murachowskis Analyse zufolge führen die Bedrohungen durch Minen, Drohnen, Loitering Munition sowie artilleristischen Gegenfeuer dazu, dass der Kampfpanzer nicht in seiner ihm zugedachten Rolle brillieren kann. Zur Überwindung dieses Bedrohungsbildes fordert der Militärexperte daher die Modernisierung des Kampfpanzers. Ihm zufolge sollten Panzer mit Systemen zur passiven Verteidigung gegen Drohnen und aktiven Systemen zur Unterdrückung von Drohnen sowie mit aktiven Schutzsystemen gegen andere Wirkmittel ausgerüstet werden. Zudem sollte seiner Meinung nach jeder Kampfpanzer mit Minenräumrollen zur Überwindung von Minenfeldern sowie mit modernen Kommunikationsmitteln und einem verbesserten Lage- und Situationsbewusstsein ausgestattet werden. „Es ist auch notwendig, Rauch- und Aerosol-Störsysteme zu entwickeln“, wird Murachowski in dem Beitrag zitiert.
Mögliche Rückschlüsse aus der Analyse
Für die westliche „Panzerei“ lassen sich aus Murachowskis Analyse, so sie, denn stimmen mag und den tatsächlichen Erkenntnissen der russischen Panzertruppe entspricht, mehrere Rückschlüsse ziehen.
Zum einen zeigen die geschilderten Erkenntnisse, dass viele westliche Analysen, die die abnehmende Bedeutung von Kampfpanzern im Ukrainekrieg sehen, auch in Russland geteilt werden. Was angesichts der hohen Verlustzahlen – laut Oryx ist die Zerstörung von über 1.700 russischen Kampfpanzern bildlich nachgewiesen – nicht sonderlich verwundert. Hierbei ist es jedoch wichtig zu betonen, dass die russische Analyse sich ausschließlich auf spezifische Systeme (russische Technik) in einem sehr begrenzten Szenario (aktuelle Lage im Ukrainekrieg) bezieht und keine allgemeingültige Analyse der Panzerwaffe auf dem modernen Gefechtsfeld darstellt.
Weiterhin ist an den Aussagen von Murachowski interessant, dass viele der von ihm vorgeschlagenen Verbesserungsvorschläge in modernen westlichen Kampfpanzern, wie beispielsweise dem Leopard 2A8, bereits umgesetzt sind. Diese Fahrzeuge verfügen über abstandsaktive Schutzsysteme, eine moderne Kommunikationssuite und Battle Management Systeme. Auch die Ausrüstung mit Nebelmittelwurfanlagen gehört seit geraumer Zeit zur Grundausstattung westlicher Kampfpanzertechnik. Was hingegen fehlt, ist die querschnittliche Einrüstung elektronischer Kampfsysteme gegen unbemannte Systeme sowie Minenräumtechnik.
Diese beiden offenen Handlungsfelder sind den westlichen Streitkräften spätestens seit dem Beginn der ukrainischen Offensive 2023 nicht verborgen geblieben. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Ausdehnung, Tiefe und enge Staffelung russischer Minenfelder öffentlich sichtbar. Zudem konnte ab da der vermehrte Einsatz von Kleinstdrohnen, Loitering Munition sowie FPV-Kampfdrohnen wahrgenommen werden, sowohl auf russischer als auch auf ukrainischer Seite. In westlichen Panzern wurden bislang noch keine Abwehrmittel gegen diese Bedrohungen eingerüstet. Bei russischen Kampfpanzern konnte man in den letzten Monaten hingegen des Öfteren integrierte Systeme zur elektronischen Kampfführung beobachten. Sollte sich dies im späteren Kriegsverlauf als wirksam erweisen, müssten sich auch westliche Streitkräfte schnellstmöglich Gedanken machen, wie man die eigenen Systeme unverzüglich mit solchen Fähigkeiten nachrüsten kann.
Auffallend an der russischen Analyse ist die fehlende Forderung nach leistungsstärkerer Bewaffnung. Was wohl dem Umstand der ausbleibenden Panzerduelle geschuldet sein könnte. Da solche Duelle, insbesondere gegen moderne westliche Kampfpanzer, kaum zu beobachten waren, konnten vermutliche auch wenig Erfahrungen über die Leistungsfähigkeit der russischen Panzerkanonen gegen westliche Panzerungen gesammelt werden. Ein automatischer Beleg für die ausreichende Bewaffnung, ist das Ausbleiben der Forderung jedoch nicht.
Von Interesse ist auch, dass das Fehlen von Munitionsbunkern in russischen Panzerfahrzeugen nicht angesprochen wird. Schließlich wird genau dieser Mangel von vielen Experten als Hauptursache für die „katastrophalen“ – im Sinne von kompletten Zerstörungen im Vergleich mit Beschädigungen bei westlichen Kampfpanzern – Verluste russischer Panzer gesehen wird.
Ferner fällt auf, dass der T-14 Armata in dem Interview kein einziges Mal erwähnt wird. Dies ist umso verwunderlicher, weil gerade das Auftauchen dieses Panzertyps wesentlich dazu beigetragen hat, dass westliche Streitkräfte Überlegungen über den Modernisierungsbedarf der eigenen Panzerflotten angestellt haben. Zudem verfügt der Armata, zumindest auf dem Papier, über viele der von Murachowski geforderten Modernisierungen, wie beispielsweise moderne Kommunikations- und Schutzsysteme. Die könnte man dahingehend deuten, dass der russische Experte keine große Hoffnung auf eine baldige Einsatzreife – samt der notwendigen Produktions- und Zulaufraten des T-14 – hat.
Fazit
Unterm Strich deutet Murachowskis Bewertung darauf hin, dass der Kampfpanzer auch in Zukunft eine wesentliche Rolle auf dem modernen Gefechtsfeld einnehmen kann, wenn er entsprechend des neuen Bedrohungsbildes modifiziert wird. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die vorgeschlagenen Modifikationen den russischen Kampfpanzer deutlich den westlichen Systemen annähern würden. Offen ist aber, ob die Umsetzung dieser Modifikationen mit der bestehenden russischen Panzerflotte technisch machbar wäre. Die zusätzlichen Schutzsysteme sowie die querschnittlich Anbringung von Minenrollen würden das Kampfgewicht der Fahrzeuge um mehrere Tonnen erhöhen. In Anbetracht der Tatsache, dass die russischen Kampfpanzermodelle bereits mehrfach modernisiert wurden und dadurch bereits mehrere Tonnen zusätzliches „Kampfgewicht“ angelegt haben, kann es durchaus sein, dass die Gewichtsreserven bereits aufgebraucht sind. Wäre dies der Fall, müssten auch weitere Systeme, wie der Antrieb, modernisiert werden. Das Resultat wäre ein gänzlich neuer Kampfpanzer.
Waldemar Geiger