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Drohnen, Flugkörper und Druckmittel: Warum die Schlagkraft der Ukraine jetzt wichtiger denn je ist

Fabian Hoffmann

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Am 18. März, nach einem Telefonat zwischen dem US-Präsidenten Donald Trump und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, erweckte letzterer den Eindruck, dass Russland seine Angriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur für einen Zeitraum von 30 Tagen vorübergehend einstellen würde. Nur wenige Stunden später startete Russland jedoch einen großangelegten Drohnenangriff auf kritische Infrastruktur in Slowjansk was zu weitreichenden Stromausfällen führte. Gleichzeitig warf Moskau der Ukraine vor, als Erste das Waffenstillstandsabkommen verletzt zu haben.

Dennoch deuten Berichte darauf hin, dass sich ukrainische und russische Delegationen darauf vorbereiten, sich in Riad mit US-amerikanischen Unterhändlern zu treffen, um ein begrenztes Waffenstillstandsabkommen zum Schutz kritischer Infrastruktur zu erörtern.

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Auch wenn die Lage zum Zeitpunkt des Schreibens unklar bleibt, liefert diese Episode einen aktuellen Anlass, die Langstreckenflugkörperkampagnen beider Seiten – der Ukraine und Russlands – erneut zu bewerten: ihren veränderten Charakter, neue Entwicklungen und die Frage, welche Seite von einem möglichen „Waffenstillstand am Himmel“ stärker profitieren könnte, sollte es dazu kommen.

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Nur Masse ist Klasse

Ähnlich wie die Kriegsführung auf taktischer Ebene – die im Ukraine-Krieg inzwischen von einer geradezu absurden Verbreitung von FPV-Drohnen geprägt ist – folgen auch die Langstreckenangriffe beider Seiten zunehmend der Logik der „geballten Präzision“.

Angesichts der relativ wirksamen Flug- und Raketenabwehrsysteme im gesamten Kriegsgebiet sowie der Vielzahl relevanter Ziele in operativer und strategischer Tiefe reichen leistungsfähige Langstreckenwaffen allein nicht aus. Erforderlich sind nicht nur Präzision und Reichweite, sondern vor allem Masse. Sowohl die Ukraine als auch Russland scheinen diese Logik erkannt zu haben und investieren entsprechend.

Schätzungen zufolge produziert Russland weiterhin über 1.200 Marschflugkörper pro Jahr sowie mehrere hundert ballistische Kurz- und Mittelstreckenraketen. Im Jahr 2024 sollen rund 6.000 Drohnen des Typs Shahed-136 im eigenen Land hergestellt worden sein. Zudem ist eine Produktion von 10.000 Gerbera-Täuschdrohnen für 2025 geplant, die die Radarsignatur der Shahed-Drohne imitieren und so die Wirksamkeit bestehender Langstreckendrohnen weiter erhöhen sollen.

Die Ukraine setzt derweil zunehmend auf Massenproduktion und hat—zumindest bis vor Kurzem—schwerere und komplexere Flugkörperprojekte, soweit aus offenen Quellen ersichtlich, nachrangig behandelt. Ende 2024 versprach Präsident Zelensky, dass die Ukraine im Jahr 2025 30.000 Langstreckendrohnen und 3.000 Marschflugkörper produzieren werde, unterstützt durch die Einführung mehrerer neuer „leichter“ Marschflugkörper- und Drohnenkonstruktionen, um dieses Ziel zu erreichen. Auch wenn diese Zahlen sehr ehrgeizig sind und unklar bleibt, ob diese Stückzahlen tatsächlich erreicht werden, hat die Ukraine ihre Anstrengungen zur Produktion von Langstreckenflugkörpern zweifellos erheblich ausgeweitet.

Neue ukrainische Entwicklungen

In den letzten Tagen gab die Ukraine den erfolgreichen Testabschuss einer 1.000 km weit reichenden Variante des Neptun-Marschflugkörpers bekannt, die vermutlich für Landangriffszwecke optimiert wurde. Ursprünglich war der R-360 Neptun als Anti-Schiffs-Flugkörper mit einer Reichweite von über 300 km konzipiert; aufgrund fehlender Zielortungssysteme war er nicht für Landangriffe geeignet.

Die Ukraine verfügt bereits über mehrere Langstreckendrohnen mit Reichweiten von über 1.000 km. Die Reichweite allein ist daher nicht der entscheidende Fortschritt dieser Entwicklung. Die eigentliche Bedeutung liegt in der Nutzlast: Sollte es der Ukraine gelungen sein, die Reichweite des Neptun auf 1.000 km zu erhöhen und dabei den ursprünglichen Gefechtskopf von 150 kg beizubehalten, eröffnet dies den Zugang zu einer größeren Zahl strategisch relevanter Ziele, die mit den existierenden Drohnensystemen aufgrund begrenzter Sprengkraft bisher nicht effektiv bekämpft werden konnten.

Langstreckendrohnen verfügen meist nur über sehr leichte Gefechtsköpfe von unter 50 kg, deren Wirkung durch die geringe Geschwindigkeit zusätzlich begrenzt wird. In vielen Fällen genügt eine einfache Betonwand, um größere Schäden zu verhindern.

Ein Marschflugkörper hingegen, der mit hoher Unterschallgeschwindigkeit (~Mach 0,9) ins Ziel fliegt und mit einem 150 kg schweren Gefechtskopf ausgestattet ist, sollte – je nach Konfiguration – in der Lage sein, ein bis drei Meter Stahlbeton zu durchschlagen. Damit könnte die Ukraine nicht nur weiche, sondern auch halbgehärtete Infrastrukturen in strategischer Tiefe angreifen, was ihre Angriffsoptionen deutlich erweitern würde.

Die größte Herausforderung für die Ukraine wird darin bestehen, diese neue Fähigkeit mit einer ausreichenden Produktionskapazität der Neptun-Variante zu verbinden. Ihre Wirksamkeit hängt zudem wesentlich von der erfolgreichen Integration in umfassendere ukrainische Angriffswellen ab, bei denen unterschiedliche Drohnen- und Flugkörpersysteme koordiniert eingesetzt werden.

Ein potenzielles Problem besteht darin, dass die Neptun-Variante im Vergleich zu bestehenden Systemen relativ leicht zu identifizieren sein könnte – sei es aufgrund ihrer Radarsignatur oder ihres spezifischen Flugprofils, insbesondere der höheren Geschwindigkeit. Dadurch könnte die russische Luftverteidigung sie als Hochwertziel erkennen und entsprechende Prioritäten bei der Abwehr setzen.

Allerdings bleibt Russland aufgrund begrenzter Abwehrkapazitäten und seiner geographischen Ausdehnung nicht in der Lage, alle potenziellen Angriffsvektoren wirksam abzudecken. Mit sorgfältiger Einsatzplanung und koordinierter Missionsführung besteht daher weiterhin eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass selbst eine begrenzte Zahl dieser Flugkörper gegnerische Verteidigungssysteme durchdringen und erheblichen Schaden anrichten kann.

Langstreckenflugkörper als Druckmittel

Sollte die Ukraine in Anbetracht dieser Entwicklungen für einen Waffenstillstand im Himmel offen sein? Die Beantwortung dieser Frage erfordert eine umfassendere Bewertung der aktuellen Lage der Ukraine im Krieg – sowohl militärisch als auch politisch.

Die Ukraine verfügt derzeit – zumindest bis vor kurzem – über drei wichtige Druckmittel gegenüber Russland, die nicht nur den Kriegsverlauf, sondern auch die Dynamik möglicher Verhandlungen oder deren Vorbereitung beeinflussen:

  • Westliche Unterstützung: Russland weiß, dass die Ukraine langfristig – solange ihre westlichen Partner engagiert bleiben – über größere wirtschaftliche und industrielle Ressourcen verfügt, um ihre Kriegsanstrengungen aufrechtzuerhalten. Dies setzt Russland unter Druck, den Konflikt eher früher als später beizulegen, und erklärt seine Bemühungen, die Ukraine diplomatisch und wirtschaftlich zu isolieren.
  • Ukrainische Truppen auf russischem Boden: Die Präsenz größerer ukrainischer Kampfverbände auf russischem Territorium verhindert eine einfache Einfrierung des Konflikts entlang bestehender Frontlinien. Solange ukrainische Truppen auf russischem Boden aktiv sind, kann weder Moskau noch Washington ein statisches Ende der Feindseligkeiten durchsetzen.
  • Unabhängige Fähigkeit zu Präzisionsangriffen in der Tiefe: Die Fähigkeit der Ukraine, russische Ziele in operativer und strategischer Tiefe unabhängig anzugreifen, gibt ihr die Möglichkeit, Russland erhebliche Kosten aufzuerlegen, solange der Krieg andauert. Diese Fähigkeit funktioniert außerhalb der Zwänge der Frontdynamik und weitgehend unabhängig von ihren Verbündeten.

Wie es scheint, ist die Unterstützung der USA für die kommenden Jahre entweder nicht mehr vorhanden oder bestenfalls höchst ungewiss. Europa bemüht sich zwar, die Lücke zu füllen, kann dies aber nicht schnell genug leisten – insbesondere, da viele europäische Staaten parallel ihre eigene Verteidigungsfähigkeit wiederaufbauen müssen. Gleichzeitig hat die Ukraine offenbar ihre Stellungen in der Region Kursk weitgehend verloren, auch wenn sie versucht, sich dort zu halten und in andere russische Gebiete vorzudringen.

All dies deutet darauf hin, dass das einzige bedeutende Druckmittel, über das die Ukraine derzeit verfügt – unabhängig von der Lage an der Front oder dem Verhalten ihrer Verbündeten –, ihre Fähigkeit ist, Russland dauerhaft Kosten über Langstreckenflugkörperangriffe aufzuerlegen, solange der Krieg andauert.

Aus diesem Grund könnte ein Waffenstillstand am Himmel für die Ukraine äußerst problematisch sein. Er würde die wichtigste unabhängige Druckmittelquelle der Ukraine neutralisieren und könnte ihre Verhandlungsposition für die Dauer des Waffenstillstands erheblich schwächen.

Natürlich wären mit einem solchen Abkommen auch potenzielle Vorteile verbunden – insbesondere die Rettung von Menschenleben und der Schutz kritischer ukrainischer Infrastruktur. Ob diese Vorteile die potenziellen Kosten überwiegen, lässt sich ohne Zugang zu vertraulichen Informationen – etwa zur Energiesituation in der Ukraine, zu den Beständen an Drohnen und Flugkörpern auf beiden Seiten sowie zu den aktuellen Bedrohungswahrnehmungen in Kiew und Moskau – kaum abschließend beurteilen.

Deutlich wird dadurch jedoch, dass Europa bereit sein muss, hinter der Ukraine zu stehen, sollte die Trump-Regierung versuchen, sie zu einem Waffenstillstand zu drängen—selbst wenn dieser nur den Langstreckenflugkörperbereich betreffen sollte—und sich die Ukraine entscheidet, solche Bedingungen abzulehnen, im Bewusstsein des Druckmittelpotenzials, das sie durch eine Zustimmung aufgeben würde.

Autor: Fabian Hoffmann ist Doktorand am Oslo Nuclear Project an der Universität Oslo. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Verteidigungspolitik, Flugkörpertechnologie und Nuklearstrategie. Der Beitrag erschien erstmalig am 23.03.2025 in englischer Sprache im „Missile Matters“ Newsletter auf Substack.