Das Jahr endet mit einem Raketenknall. In den letzten Wochen hat die Ukraine mehrere bisher unbekannte Flugkörperprojekte öffentlich gemacht. Zusammen mit den bereits bekannten Raketensystemen im ukrainischen Arsenal und den bisher bekannten Projekten, die sich in der Entwicklung befinden, gibt dies einen guten Einblick in das „Raketenarsenal“, das die Ukraine in Zukunft einsetzen will. Dieser Beitrag gibt einen Überblick über die laufenden Flugkörperprojekte der Ukraine. Zu beachten ist, dass sich diese Bewertung ausschließlich auf öffentlich zugängliche Informationen stützt, was bedeutet, dass die geheimen Fähigkeitsprofile abweichen können.
Die neuen Flugkörperprogramme der Ukraine
Ruta
Ruta ist ein Marschflugkörperprojekt mit einer Reichweite von 300 km und einer Höchstgeschwindigkeit von 800 km/h (Mach 0,65). Auf digitalen Renderings und Modellen, die auf Branchenveranstaltungen gezeigt wurden, ist ein Lufteinlass zu sehen, was darauf schließen lässt, dass der Flugkörper mit einem luftatmenden Triebwerk, wahrscheinlich einem Turbojet-Triebwerk, ausgestattet ist.
Berichten zufolge kann der Flugkörper verschiedene 30-100 kg schwere Nutzlasten tragen, darunter Aufklärungsnutzlasten, konventionelle Sprengköpfe und inerte Nutzlasten für Testzwecke. Der Flugkörper ist mit einer Trägheits- und GPS-Lenkung für die Navigation auf der mittleren Flugbahn ausgestattet. Ob er auch über eine Endzielführung verfügt, ist nicht bekannt, jedoch könnte diese Fähigkeit in Zukunft hinzugefügt werden.
Die Ruta befindet sich derzeit in der Testphase und ist noch nicht einsatzbereit.
Pekklo
Bei dem Pekklo handelt es sich offenbar um einen neuen Typ eines Mini-Marschflugkörpers im Arsenal der Ukraine. Das System hat Berichten zufolge eine Reichweite von 700 km und eine Höchstgeschwindigkeit von 700 km/h (Mach 0,57). Wie Ruta scheint auch Pekklo derzeit nicht über ein Zielführungssystem in der Endflugphase zu verfügen.
Der Flugkörper ist außerdem mit einem Turbojet-Triebwerk ausgestattet, das jedoch nicht in den Rumpf integriert wurde, sondern oben angebracht ist. Der Flugkörper trägt eine konventionelle Nutzlast unbekannter Größe, wobei derzeit keine weiteren Nutzlasttypen bekannt sind.
Laut ukrainischen Angaben soll der Flugkörper bereits im Einsatz und erfolgreich eingesetzt worden sein.
Palianytsia
Offiziellen ukrainischen Quellen zufolge handelt es sich bei der Palianytsia um eine „Langstrecken-Raketendrohne“. Sie hat Berichten zufolge eine Reichweite von bis zu 700 km und eine Höchstgeschwindigkeit von 500 km/h (Mach 0,4). Die Drohne soll eine konventionelle Nutzlast von 9-20 kg tragen können und wird vollständig in der Ukraine hergestellt. Außerdem verfügt sie über eine größere aerodynamische Oberfläche als die zuvor beschriebenen Flugkörper.
Ukrainische Quellen behaupten, dass die Palianytsia von einem Turbojet-Motor angetrieben wird, was der Bezeichnung als ‚Raketen-Drohne‘ widerspricht, da Turbojet-Motoren luftatmende Triebwerke sind, die nicht auf Raketenantrieb angewiesen sind. Angebliche Videoaufnahmen der Drohne zeigen ebenfalls deutlich Lufteinlässe und ein Strahltriebwerk. Dies bedeutet, dass die Bezeichnung ‚Raketen-Drohne‘ technisch gesehen ein Fehlgriff ist, obwohl dieser Begriff möglicherweise durch Übersetzungsfehler entstanden sein könnte.
Ukrainischen Quellen zufolge ist die Palianytsia in die Serienproduktion gegangen und wurde Berichten zufolge bereits im Kampf eingesetzt.
Lord
Die Lord ist eine propellergetriebene Langstreckendrohne mit einer angegebenen Reichweite von 750 bis 2.000 km und einer geschätzten Geschwindigkeit von 150 bis 300 km/h. Sie soll eine Nutzlast von 22 kg tragen, die sowohl konventionelle Sprengköpfe als auch funktionelle Ausrüstung (z. B. für Aufklärung oder Transport) enthalten kann.
Digitale Renderings deuten darauf hin, dass es sich bei der Drohne um eine optimierte Version der improvisierten, umgebauten zweisitzigen Flugzeugdrohnen handelt, die die Ukraine bereits bei Angriffen tief in Russland eingesetzt hat.
Es ist unklar, ob die Lord-Drohne bereits im Kampf eingesetzt wurde. Russischen Berichten zufolge wurde ein Wrack der Drohne gefunden, obwohl Bilder des angeblichen Wracks nicht dem kastenförmigen Design ähneln, das in den digitalen Renderings gezeigt wird. Deshalb ist an dieser Stelle Vorsicht geboten.
Drohnen oder Flugkörper?
Bevor die strategischen Auswirkungen dieser Flugkörperprogramme betrachtet werden, lohnt es sich, kurz darüber nachzudenken, ob es sich bei den neuen ukrainischen Flugkörperprojekten um Drohnen oder Flugkörper (im Englischen „Missiles“) handelt, denn diese Frage wurde in den letzten Wochen teils kontrovers diskutiert.
Erstens ist diese Debatte wohl fehlgeleitet, denn Langstrecken-Einweg-Angriffsdrohnen sind im Grunde eine Art von Flugkörperprojektil. Im Kern bezieht sich der Begriff „militärischer Flugkörper“ auf ein unbemanntes, luftgestütztes, selbstangetriebenes Waffensystem für den einmaligen Gebrauch, das eine bestimmte Entfernung zurücklegen und ein Ziel neutralisieren soll, in der Regel durch kinetische Effekte. Diese Definition umfasst verschiedene Systeme, darunter ballistische Raketen, Marschflugkörper und Langstrecken-Drohnen.
Eine relevantere Frage könnte sein, ob die neuen Flugkörperprojekte der Ukraine als Langstreckendrohnen oder Marschflugkörper eingestuft werden sollten. Dies ist eine differenziertere Unterscheidung, da die Grenzen zwischen diesen beiden Kategorien nicht klar definiert sind und es Überschneidungen gibt.
Im Vergleich zu Marschflugkörpern sind Langstreckendrohnen in der Regel langsamer, tragen kleinere Nutzlasten und haben eine breitere Form (da sie eine größere aerodynamische Oberfläche benötigen, um den Flug aufrechtzuerhalten). Außerdem sind sie in der Regel weniger ausgeklügelt und verfügen oft nicht über fortschrittliche Stealth-Funktionen, Zielführungssysteme oder Gegenmaßnahmen zur elektronischen Kriegsführung, wodurch sie auch billiger zu produzieren, aber tendenziell weniger leistungsfähig sind.
Diese Merkmale bieten einen sinnvolleren Rahmen für die Klassifizierung als willkürliche Kriterien wie Reichweitenschwellen, die Verfügbarkeit von Führungssystemen (zum Beispiel Fernlenkung) oder spezifische Antriebssysteme, die sowohl für Marschflugkörper als auch für Langstreckendrohnen in Frage kommen.
In diesem Sinne entsprechen die Ruta und Peklo wohl eher den Merkmalen von Marschflugkörpern, während Palianytsia und Lord eher als Langstreckendrohnen zu bezeichnen sind.
Strategische Implikationen
Jede Langstreckenwaffe, die die Ukraine in die Lage versetzt, tief hinter der Frontlinie und in Russland zu wirken, ist von großem Vorteil. In diesem Zusammenhang ist es besonders bemerkenswert, dass die Ukraine zuversichtlich zu sein scheint, die Produktion von Marschflugkörpern und Drohnen schnell auf ein beträchtliches Niveau steigern zu können.
Interessanterweise wird die Ukraine, wenn die oben skizzierten Fähigkeitsprofile zutreffen und es ihr gelingt, diese Marschflugkörper- und Drohnensysteme in großen Stückzahlen zu produzieren, eine Art von Flugkörperfähigkeiten erwerben, die die Vereinigten Staaten derzeit für ihr Arsenal vorsehen, aber noch nicht entwickelt haben: große Mengen relativ kostengünstiger, aber leistungsfähiger kleiner Marschflugkörper und Drohnen.
Im Gegensatz dazu scheint die Ukraine die Entwicklung „schwerer“ Flugkörper, wie z.B. eines Storm Shadow/SCALP-EG-ähnlichen Landziel-Marschflugkörpers (land-attack cruise missile – LACM) oder einer ballistischen Kurzstreckenrakete (short-range ballistic missile – SRBM), die wesentlich größere Nutzlasten transportieren kann, nicht vorrangig zu verfolgen (oder vorantreiben zu können). Zwar gibt es in der Ukraine derartige Projekte (z.B. die LACM Korshun und die SRBM Sapsan), doch Berichten der letzten Jahre zufolge hat die Ukraine Schwierigkeiten, deren Entwicklung abzuschließen und in Serie zu produzieren.
Die neuen ukrainischen Flugkörper und Drohnen stellen, wenn sie in größerer Zahl produziert werden, eine ernsthafte Herausforderung für Russland dar, da sie selbst mit ihren kleineren Nutzlasten mehr als ausreichend sind, um ungehärtete Ziele, insbesondere kritische industrielle und wirtschaftliche Infrastrukturen, zu bedrohen. Die Ukraine wird jedoch weiterhin auf ihre westlichen Partner angewiesen sein, wenn es um die Lieferung schwerer Marschflugkörper geht, mit denen gehärtete und verbunkerte Strukturen tief hinter der Frontlinie wirksam bekämpft werden können, sowie um die Lieferung von ATACMS, die mit Streumunitionssprengköpfen bewaffnet sind, um Flächenwirkung gegen Ziele in operativer und teilweise strategischer Tiefe zu erzielen.
Autor: Fabian Hoffmann ist Doktorand am Oslo Nuclear Project an der Universität Oslo. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Verteidigungspolitik, Flugkörpertechnologie und Nuklearstrategie. Der Beitrag erschien erstmalig am 22.12.2024 in englischer Sprache im „Missile Matters“ Newsletter auf Substack.