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Wirkung in der Tiefe: Die strategische Disruptionskampagne der Ukraine nimmt langsam Gestalt an

Fabian Hoffmann

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Diese Woche war von einigen der bisher intensivsten ukrainischen Drohnen- und Flugkörperoperationen geprägt. Die Ukraine führte mehrere groß angelegte Angriffe auf kritische Infrastruktur und militärische Ziele tief im russischen Hoheitsgebiet durch, bis zu 1.100 km hinter der Frontlinie.

Der umfangreichste Angriff ereignete sich in der Nacht vom 13. auf den 14. Januar, bei dem weit über 100 Drohnen und Flugkörper russische Industriewerke, Öldepots, Raffinerien und Munitionslager in mehreren Regionen, darunter Woronesch, Saratow, Tatarstan und Orel, angriffen. In den Tagen davor und danach folgten weitere kleinere Angriffe. Am Abend des 17. Januar 2025 hat die Ukraine offenbar erneut Öldepots in den Regionen Kaluga und Tula angegriffen.

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Welche Waffensysteme die Ukraine bei diesen Operationen eingesetzt hat, ist derzeit noch unklar. Nach dem Großangriff vom 13. und 14. Januar behaupteten russische Medien, dass von den USA gelieferte ballistische Kurzstreckenraketen des Typs MGM-140 ATACMS sowie von Großbritannien und Frankreich gelieferte Storm Shadow/SCALP-EG-Raketen beteiligt gewesen seien, auch beim Angriff auf ein Chemiewerk in Brjansk.

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Die Ukraine hat den Einsatz westlicher Flugkörpertechnologie bislang nicht bestätigt, und Russland hat bisher keine Belege wie Bilder von Wrackteilen westlicher Raketen oder Marschflugkörper vorgelegt. Sollte sich dies jedoch bestätigen, würde damit eine wichtige Schwelle überschritten. Es wäre der erste dokumentierte Fall, in dem westliche Flugkörper nicht nur gegen militärische Ziele, sondern auch gegen Dual-Use-Industrieanlagen (Anlagen, die sowohl zivile als auch militärische Zwecke erfüllen) eingesetzt wurden.

Die strategische Disruptionskampagne der Ukraine

Die Angriffe der vergangenen Woche sind von großer Bedeutung, da sie die potenziellen Auswirkungen einer koordinierten „strategischen Disruptionskampagne“ der Ukraine verdeutlichen.

Strategische Disruptionskampagnen zielen auf die kriegsindustrielle Infrastruktur eines gegnerischen Staates, zentrale inländische Verteidigungsindustrien, Versorgungsketten, strategische Transportknotenpunkte und damit verbundene Ressourcen ab. Das Hauptziel besteht darin, die militärischen Fähigkeiten des Gegners in der Aufmarsch- und Voraufmarschphase zu stören und so die Gesamtmenge an verfügbarem Kriegsmaterial zu reduzieren.

Die Logik hinter einer solchen Kampagne ist einfach: Jedes Stück Ausrüstung und jedes kriegsrelevante Material, das die Frontlinie nicht erreicht, muss dort nicht zerstört werden. Dadurch werden auf ukrainischer Seite kritische Ressourcen geschont.

Eine strategische Disruptionskampagne muss nicht kriegsentscheidend sein, um Wirkung zu erzielen. Historisch gesehen waren sie das nie. So war der erfolgreichste Aspekt der strategischen Luftkampagne der Alliierten im Zweiten Weltkrieg die gezielte Zerstörung der kriegswichtigen Industrien des Dritten Reichs. Zwar brachten diese Angriffe die deutsche Kriegswirtschaft nicht unmittelbar zum Zusammenbruch – die Gesamtproduktion stieg trotz verstärkter Bombardements bis Mitte 1944 sogar an –, doch reduzierten sie die Produktion erheblich unter das theoretisch mögliche Niveau und trugen maßgeblich zur Niederlage Deutschlands bei.

Dies ist entscheidend: Der Erfolg einer strategischen Disruptionskampagne wird nicht in absoluten Zahlen gemessen (z. B. „Wurde der Feind entscheidend besiegt?“), sondern in relativen Zahlen. Die relevante Frage lautet: Um welchen Prozentsatz konnte die Gesamtproduktion im Vergleich zum maximalen Produktionspotenzial des Gegners reduziert werden? Strategische Disruptionskampagnen, insbesondere solche, die auf kostengünstige Langstreckenwaffen setzen, liefern in dieser Hinsicht fast immer positive Ergebnisse. (Dies gilt natürlich nicht nur für die Ukraine, sondern auch für andere Akteure wie Russland, die NATO oder China.)

Ein gutes Beispiel für den Mehrwert solcher Angriffe ist der Angriff auf die Chemiefabrik in Brjansk, die während der Flugkörperangriffe der vergangenen Woche getroffen wurde und erheblichen Schaden erlitt. Derzeit ist unklar, wie lange die Anlage außer Betrieb sein wird. Es könnte Tage oder Wochen dauern, bis ein Teil der Produktion wieder aufgenommen wird, oder die Anlage könnte für einen längeren Zeitraum stillgelegt bleiben. Letzteres wäre aus ukrainischer Sicht zwar ideal, doch selbst ein vorübergehender Produktionsstopp für Sprengstoffe und Treibladungen ist von großem Nutzen. Letztlich ist jedes nicht produzierte Ausrüstungsstück ein Wirkmittel weniger, mit dem sich an der Front auseinandergesetzt werden muss.

Die Ukraine führt seit etwa zwei Jahren eine strategische Disruptionskampagne durch und hat dabei wichtige Ergebnisse erzielt, wie beispielsweise die Reduzierung der russischen Ölraffineriekapazität um schätzungsweise 17 Prozent bis Juli 2024. Bislang fehlte es der Ukraine jedoch an der nötigen Munition, um eine solche Kampagne in größerem Maßstab durchzuführen. Angesichts des drastischen Anstiegs der ukrainischen Flugkörper- und Drohnenproduktion im eigenen Land sind die Angriffe dieser Woche ein Zeichen dafür, dass die strategische Disruptionskampagne der Ukraine Russland in den kommenden Monaten zunehmend vor Herausforderungen stellen könnte.

Russlands (Nicht-)Reaktion

Eine weitere interessante Erkenntnis aus den Drohnen- und Flugkörperangriffen dieser Woche ist die Reaktion Russlands, die – zumindest relativ betrachtet – überraschend zurückhaltend ausfiel. Zwar startete Russland umgehend eigene Flugkörperangriffe, die tragischerweise zivile Opfer in der Ukraine forderten.

Wie bei den meisten sogenannten russischen „Vergeltungsschlägen“ bleibt jedoch unklar, ob diese Angriffe tatsächlich reaktiv waren oder lediglich Teil im Voraus geplanter Operationen, die andernfalls ein paar Tage später durchgeführt worden wären. Es ist außerdem erwähnenswert, dass Russland weiterhin Hunderte von Raketen, Drohnen und Marschflugkörpern auf Lager hat, die es vermutlich unabhängig von den Aktionen der Ukraine einsetzen wird.

Besonders auffällig ist jedoch das relative Schweigen der russischen Führung. Zwar gab es einige Kommentare im Zusammenhang mit dem unbestätigten Einsatz von ATACMS- und Storm Shadow/SCALP-EG beim Angriff auf Brjansk, doch insgesamt war die Resonanz gering. Insbesondere die nukleare Rhetorik, die nach solchen Ereignissen sonst oft zu erwarten war, fehlte auffallend.

Dies könnte daran liegen, dass Russland derzeit ein entscheidender Teil seines üblichen Publikums fehlt: die amerikanische Führung. Da Biden das Weiße Haus verlässt und die neue Trump-Administration mit anderen Themen als der Ukraine beschäftigt ist, schenkt man auf der anderen Seite des Atlantiks weder den Aktionen der Ukraine noch den Reaktionen Russlands große Aufmerksamkeit.

Das ist keineswegs negativ. Wenn wir auf jede nukleare Drohung mit übermäßiger Aufmerksamkeit reagieren, riskieren wir, sogenannte „Commitment Traps“ zu schaffen – Situationen, in denen sich Russland irgendwann gezwungen sehen könnte, seine Drohungen wahrzumachen, um seine Glaubwürdigkeit in zukünftigen Szenarien zu bewahren.

Der beste Weg, solche Dynamiken zu vermeiden, besteht darin, das Entstehen solcher Fallen von vornherein zu verhindern. Am besten gelingt dies, indem man unglaubwürdigen Drohungen keine große Beachtung schenkt oder der anderen Seite von vornherein das Gefühl vermittelt, solche Drohungen gar nicht wahrzunehmen. Es scheint, dass dies in den letzten Tagen weitgehend gelungen ist, wenn auch eher unbewusst als bewusst. Dennoch ist dies eine wertvolle Lektion, auf der die westliche Führung künftig aufbauen sollte.

Autor: Fabian Hoffmann ist Doktorand am Oslo NuclearProject an der Universität Oslo. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Verteidigungspolitik, Flugkörpertechnologie und Nuklearstrategie. Der Beitrag erschien erstmalig am 19.01.2025 in englischer Sprache im „Missile Matters“ Newsletter auf Substack.