Die letzten Wochen boten wichtige Einblicke in die ukrainische Perspektive einer künftigen Abschreckungsbeziehung zu Russland und in die Pläne Kiews zur Verhinderung einer weiteren Invasion.
Selenskyjs bevorzugte Option sind wahrscheinlich nach wie vor glaubwürdige Sicherheitsgarantien westlicher Atommächte, vor allem durch eine NATO-Mitgliedschaft.
Andere Möglichkeiten sind die Entwicklung einer unabhängigen nuklearen Abschreckung oder die Verfolgung einer „nichtnuklearen strategischen Abschreckung“, wie Selenskyj vor einigen Wochen ankündigte. Diese Optionen könnten als Alternativen zur NATO-Mitgliedschaft dienen oder parallel zum Beitritt zum Bündnis verfolgt werden.
Eine nukleare Abschreckung
Ukrainische Atomwaffen würden in einer Nachkriegswelt wohl eine sehr glaubwürdige Abschreckungsfähigkeit darstellen und könnten in vielerlei Hinsicht das bevorzugte Mittel sein. Das Problem für Kyiw besteht darin, dass dem Einsatz einer solchen nuklearen Abschreckung große technische, politische und militärische Hindernisse entgegenstehen.
Erstens hat die Ukraine zwar höchstwahrscheinlich sowjetische Entwürfe für die Herstellung von Nuklearsprengköpfen behalten, aber sie hat keinen Zugang zu dem für den Bau einer Bombe erforderlichen Spaltmaterial. Theoretisch gibt es zwei Wege zur Beschaffung von spaltbarem Material: den Uran- und den Plutoniumweg. Da die Ukraine nicht über Urananreicherungsanlagen verfügt, müsste sie den Weg über Plutonium gehen.
Bei der Plutonium-Route wird Uran in einem Kernreaktor bestrahlt, wo es Neutronen absorbiert und sich in Plutonium-239 (Pu-239) verwandelt. Nach ausreichender Anreicherung wird der verbrauchte Reaktorbrennstoff chemisch wiederaufbereitet, um Pu-239 zu gewinnen.
Die Ukraine verfügt derzeit weder über „Brüter“-Reaktoren, die für die Erzeugung von Pu-239 optimiert sind, noch über Wiederaufbereitungsanlagen, d.h. sie hat keine Möglichkeit, das spaltbare Material selbst zu gewinnen. Natürlich könnte die Ukraine diese Kapazität aufbauen, aber das würde Zeit brauchen.
Der Versuch genügend Spaltmaterial zu sammeln, würde wahrscheinlich nicht geheim bleiben, da die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) die ukrainischen Nuklearanlagen überwacht, um sicherzustellen, dass das zivile Nuklearprogramm der Ukraine nicht für militärische Zwecke umfunktioniert wird.
Jede signifikante Abweichung vom Standardbetrieb der Kernkraftwerke, wie z.B. die Optimierung der Pu-239-Produktion durch einen niedrigen Abbrand der Brennstäbe, würde eine sofortige Prüfung auslösen. Dies würde wahrscheinlich dazu führen, dass die IAEO die Mitgliedstaaten über mögliche Bedenken hinsichtlich der Verbreitung von Kernwaffen informiert.
Dies wiederum könnte zu einem groß angelegten russischen Raketenangriff auf die ukrainische Nuklearinfrastruktur unter dem Vorwand führen, die ukrainische Nuklearproliferation zu verhindern. In diesem Zusammenhang könnte die internationale Verurteilung für einen russischen Angriff auf Nuklearinfrastruktur minimal ausfallen.
Technisch gesehen könnte die Ukraine eine Überprüfung durch die IAEO vermeiden, indem sie offiziell aus dem Atomwaffensperrvertrag aussteigt und IAEO-Beobachter aus ihren Anlagen ausweist. Dies würde jedoch wahrscheinlich zu demselben Ergebnis führen. Internationale Beobachter würden ein solches Vorgehen als eindeutige Absicht zur nuklearen Proliferation interpretieren und einen Präventivschlag Russlands auslösen.
Das bedeutet nicht, dass es grundsätzlich unmöglich ist, dass die Ukraine in den Besitz einer Atomwaffe kommt. Dies würde jedoch längerfristige Anstrengungen erfordern. In jedem Fall muss die Ukraine davon ausgehen, dass Russland kaum zögern würde, in diesem Fall einen Präventivschlag gegen die Nuklearinfrastruktur der Ukraine durchzuführen.
Eine nicht-nukleare Abschreckung
Eine glaubwürdige nichtnukleare Abschreckung könnte eine praktikable Alternative zu ukrainischen Atomwaffen sein. Selenskyj schlug dies in seinem Friedensplan vor, der ein „nichtnukleares strategisches Abschreckungspaket“ enthielt. Wichtig ist, dass diese Fähigkeit im Zusammenhang mit dem NATO-Beitritt der Ukraine erwähnt wurde, aber auch außerhalb der NATO-Mitgliedschaft das Abschreckungspotenzial Kyiws stärken könnte.
Die Begriffe „nichtnukleare strategische Waffe“ oder „strategische nichtnukleare Waffe“ tauchten erstmals in der akademischen Literatur auf, um die abnehmende Kluft in der Letalität zwischen nuklearen und konventionellen Waffen zu beschreiben. Der Gedanke dahinter ist, dass bestimmte nichtnukleare Waffen, insbesondere konventionelle Langstreckenwaffen, Kernwaffen für bestimmte Missionen ersetzen können. Die Ukraine könnte versuchen, die „strafende“ Wirkung von Atomwaffen durch konventionelle Flugkörper zu replizieren.
Eine Möglichkeit ist, dass die Ukraine Langstreckenwaffen stationieren will, die glaubhaft einen erheblichen Teil der russischen kritischen zivilen Infrastruktur, einschließlich Elektrizität, Transport, Infrastruktur zur Erdölraffinierung und -lagerung, Gasförderung und anderer Schlüsselindustrien, gefährden kann, um eine russische Aggression abzuschrecken.
Die Grundidee bestünde darin, zu signalisieren, dass die Ukraine, sobald ein russischer Angriff erfolgt, sofort Vergeltung üben wird, indem sie Russlands wirtschaftliches Potenzial und seine Wirtschaftsleistung einschränkt und damit sein BIP erheblich reduziert.
Die Ukraine hat bewiesen, dass sie in der Lage ist, Langstreckenwaffen zu entwickeln und herzustellen, die für derartige Zwecke eingesetzt werden können. Um jedoch über ein konventionelles Drohpotenzial mit ausreichender Glaubwürdigkeit zu besitzen, müsste die Ukraine wahrscheinlich ihr Arsenal über Langstrecken-Angriffsdrohnen hinaus erweitern und eine beträchtliche Anzahl von ballistischen Kurz- und Mittelstreckenraketen sowie Marschflugkörpern für Landangriffe mit längerer Reichweite einführen.
Herausforderungen für die Glaubwürdigkeit
Die nukleare Proliferation scheint für die Ukraine vor allem kurz- bis mittelfristig und insbesondere vor dem Hintergrund des andauernden Krieges eine unrealistische Option zu sein. Sie birgt nicht nur technische Herausforderungen, sondern auch erhebliche politische und militärische Risiken.
Eine mögliche Alternative, nämlich der Einsatz nichtnuklearer strategischer Waffen zur Umsetzung einer konventionellen strategischen Abschreckungsfähigkeit, ist zwar ebenfalls eine Herausforderung, aber wohl weitaus praktikabler. Allein durch den Ausbau ihrer jetzigen Fähigkeit zum Wirken in der russischen Tiefe wird sich die Ukraine automatisch in diese Richtung bewegen.
Die entscheidende Frage ist, wie zielgerichtet die ukrainischen Bemühungen sein werden, ihr Langstreckenwaffenarsenal als strategisches Abschreckungsmittel und nicht nur als einfaches Mittel zur Kriegsführung einzusetzen, und wie viel Geld Kyiw bereit ist, zu diesem Zweck über andere konkurrierende Prioritäten zu stellen.
Autor: Fabian Hoffmann ist Doktorand am Oslo Nuclear Project an der Universität Oslo. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Verteidigungspolitik, Flugkörpertechnologie und Nuklearstrategie. Der Beitrag erschien erstmalig am 19.10.2024 in englischer Sprache im „Missile Matters“ Newsletter auf Substack wurde jedoch aktualisiert.