„In der Nacht zum 29. Juni (ab 19:00 Uhr am 28. Juni) griff der Feind mit 537 Luftkriegsmitteln an:
- 477 Shahed-Angriffs- und verschiedener Typen Täuschkörperdrohnen aus den Richtungen: Kursk, Shatalovo, Orel, Bryansk, Millerovo – RF, Chauda – TOT von der Krim, mehr als 250 davon – „Shaheeds“;
- Vier aus der Luft gestartete, Hyperschallflugkörper des Typ Kh-47M2 „Kinschal“ aus dem Luftraum der Oblast Tambow – Russische Föderation;
- Sieben ballistische Raketen vom Typ Iskander-M/KN-23 aus der Oblast Woronesch (Russland) und der TOT der Krim;
- 41 Marschflugkörper Kh-101/Iskander-K aus Saratow, Kursk, Oblast Brjansk – RF;
- Fünf Kaliber Marschflugkörper aus dem Schwarzen Meer;
- Drei S-300-Flugabwehrlenkraketen aus der Region Kursk – Russland.
Der Luftangriff wurde von der Luftwaffe, der Flugabwehrraketentruppe, Einheiten für elektronische Kriegsführung und unbemannte Systeme, sowie mobilen Luftverteidigungseinheiten der ukrainischen Streitkräfte abgewehrt.“
Dies ist die Meldung der ukrainischen Luftwaffe vom Morgen des 29. Juni. Sie listet die Luftkriegsmittel auf, die in der Nacht gegen ukrainische Städte und kritische Infrastruktur eingesetzt wurden. Es war zahlenmäßig der größte Angriff, den Russland bis dahin durchgeführt hat. Den Großteil der Wirkmittel stellten die Einweg-Angriffsdrohnen Shahed und Geran dar.
Als die russischen Frontfliegerkräfte am 28. Juni gegen 16:00 Uhr ihre Operationen einstellten, begann die ukrainische Luftwaffe über ihren Telegram-Account Warnungen zu versenden und auf die Bewegungen und die potenzielle Bedrohung durch Shaheds und Gerans hinzuweisen. Jede neue Bedrohung wurde mit einem neuen Post versehen, was zu einem stetigen und zeitweise intensiven Thread führte, der bis 03:54 Uhr am Morgen des 29. Juni anhielt. Ab diesem Zeitpunkt nahm die russischen Frontfliegerkräfte ihre Angriffe und die Aufklärung ukrainischer Stellungen wieder auf.
Zu diesem Zeitpunkt war ein ukrainischer Pilot, Oberstleutnant Maksym Ustimenko, bereits gefallen und seine F-16 zerstört. Russische Raketen und höchstwahrscheinlich auch einige Shaheds hatten die ukrainische Luftverteidigung durchbrochen und sechs Ziele bekämpft. Die Raketen bzw. Flugkörper sind das leistungsfähigste Element der russischen Angriffsstrategie, und Waffen wie die ballistische Iskander-Rakete und die luftgestützte Kinschal haben eine sehr niedrige Abfangrate. Sie sind zwar sehr präzise, aber im Vergleich zu der Geran relativ zeitaufwendig und teuer in der Herstellung. Was sind also diese Einweg-Angriffsdrohnen und wie werden sie eingesetzt?
Shahed und KRITIS
Zur russischen Doktrin gehört das Konzept der Strategischen Operation zur Zerstörung kritischer Infrastruktur (KRITIS). Dabei handelt es sich um einen bewusst angesetzten Versuch, einen Konflikt zu beeinflussen und einen Gegner abzuschrecken oder zu zermürben, indem man kritische nationale Infrastruktur angreift. Dahinter steckt die Annahme, dass eine Gesellschaft nur schwer Widerstand leisten kann, wenn sie etwa keinen Strom hat und die Grundversorgung bedroht ist, was einen Krieg zu Russlands Gunsten beeinflussen oder ihn ganz beenden könnte. Aus diesem Grund konzentrieren sich russische Angriffe zu Wintereinbruch auf die Energieinfrastruktur der Ukraine. Heizung und Wasser werden in der Ukraine in der Regel zentral bereitgestellt, größtenteils von denselben Kraftwerken, die auch den Strom erzeugen. Werden diese oder die für die Stromverteilung relevanten Umspannwerke zerstört, geht die Heizung verloren, was in den langen ukrainischen Wintern eine enorme Herausforderung darstellt.
Vor 2022 ging die russische Theorie davon aus, dass große Angriffe mit Marschflugkörpern und ballistischen Raketen ausreichen würden, um diesen Effekt zu erzielen – eine Annahme, die die Ukraine offensichtlich erfolgreich in Frage gestellt hat. Marschflugkörper brauchen lange, um ihr Ziel zu erreichen. Eine Kh-101, eines der von Russland bevorzugten Langstreckenangriffsmitteln, würde beispielsweise für 2.500 km mehr als drei Stunden benötigen. Würde derselbe Flugkörper über dem Kaspischen Meer gestartet, was russische strategische Bomber offenbar bevorzugt tun, würde er immer noch bis zu zwei Stunden brauchen, um Kiew zu erreichen. Das lässt reichlich Zeit für Warnungen, und selbst wenn die Raketen Ausweichrouten und komplexe Angriffsprofile fliegen – was häufig vorkommt –, verfügt die Ukraine über eine ausreichende Dichte an Luftverteidigungsmitteln, um sie potentiell abzuwehren.
Bei zwei beispielhaften Angriffen im März und August 2024 etwa, waren rund 40 Prozent der von Russland eingesetzten Mittel Drohnen vom Typ Shahed oder Geran, der Rest waren Raketen. Die Ukraine konnte etwa 83-86 Prozent der 165 bei diesen beiden Angriffen eingesetzten Marschflugkörper abfangen. Die Abfangraten bei Shahed waren höher, die meisten Iskander und Kinschal schafften es durch den Abwehrschirm. Nimmt man die Kh-101 als Richtwert für eine Marschflugkörper bei einem Kostenpunkt von rund einer Million US-Dollar, dann hätte Russland Flugkörper im Wert von 165 Millionen Dollar eingesetzt, wovon gerade einmal das Äquivalent von 23 Millionen Dollar das Ziel erreichten, was eine relativ geringe Ausbeute darstellt. Bedenkt man nun, dass Russland es sich zum Ziel gesetzt hat, diese Angriffe fast jede Nacht durchzuführen, wird einem klar, dass die Kosten dauerhaft nicht tragbar sind. Shaheds und Gerans spielen also (aus reinen Kostengründen) eine immer wichtigere Rolle: Es werden neue Varianten entwickelt und riesige Mengen produziert, was die Belastung der ukrainischen Luftverteidigung erhöht. Zum Vergleich: Die 475 Shaheds, die am 28. Juni gestartet wurden, werden Schätzungen zufolge etwa 9,5 Millionen US-Dollar gekostet haben, während jede Drohne etwa zwischen 20.000 und 50.000 US-Dollar kostet. Die finanzielle Belastung für den Einsatz dieser Drohnen sind zwar immer noch erheblich, aber deutlich geringer als die großen Marschflugkörper-Salven, die ihre Ziele häufig verfehlen.
Innerhalb der Shahed-Familie sind verschiedene Varianten sowie verschiedene Sprengkopftypen und Leitsysteme entwickelt worden, als Reaktion auf die Anpassung der Ukraine an die Bedrohung. Die folgenden Angaben bietet einen Überblick.
Shahed/Geran
Der erste iranische Shahed-136 Einsatz gegen Kiew erfolgte im Oktober 2022. Dabei wurden vier Zivilisten getötet. Dies war eines der ersten Anzeichen dafür, dass Russland Schwierigkeiten hatte, die Mittel für seine strategische Kampagne gegen die ukrainische KRITIS bereitzustellen. Mit der Zeit stellte sich heraus, dass der Iran Russland einige Tausend dieser Luftkriegsmittel geliefert und die nötige Unterstützung für den Bau einer Fabrik in Alabuga sowie die erforderlichen Pläne für den Bau von Shahed im Inland zur Verfügung gestellt hatte. Im Laufe der Zeit entstand eine eigene Version, die als Geran-2 bekannt ist. Dies ist die Bezeichnung für in Russland produzierte Shahed. Russland fertigt aktuell jede Woche Hunderte dieser Drohnen, wodurch es seinen Einsatz im September 2024 auf 200 und bis März 2025 auf 1.000 pro Woche steigern konnte. In diesem Zusammenhang ist es wichtig festhalten, dass im März 2025 rund 110 Shahed und Geran pro Woche ihr Ziel erreichten, was laut dem Center for Strategic & International Studies (CSIS) zehnmal mehr ist als der Durchschnitt des Vorjahres.
Es gibt erhebliche Unterschiede zwischen der Geran und der Shahed. Diese spiegeln die hochwertigeren Produktionsverfahren in Russland sowie eine verbesserte Zielerfassung und Navigation wieder. Dazu gehört aber auch ein Rumpf aus Fiberglas über gewebter Kohlefaser, anstelle eines leichten Wabenkörpers wie bei der Shahed.
Maße
Die Shahed ist groß, was auf Fotos in Ermangelung von Relationen nicht immer erkennbar ist. Die Abmessungen sind wie folgt:
- Länge: 3,5 Meter
- Spannweite: 2,5 Meter
- Gewicht: 200 kg
- Reichweite: Mehr als 970 km
- Geschwindigkeit: 185 km/h
- Nutzlast: 50 kg – 90kg
Nutzlast
- BSF-50 – hochexplosiver Sprengkopf
- BST-52 – Russischer thermobarischer Sprengkopf
- TBBCh-50M – ein 50 kg schwerer thermobarischer Sprengkopf
- OFZBCh-50 – hochexplosiver Splittergefechtskopf

Zu den weiteren Nutzlasten dürften Versionen mit mehreren Hohlladungen gehören, und bei vielen Sprengköpfen wurden improvisierte Splittermäntel beobachtet, die aus um den Gefechtskopf gewickelten Kugellagern bestehen.
Antrieb
In den Basisversionen kommen verschiedene Triebwerke aus China und anderen Ländern zum Einsatz, die zwar eine gute Reichweite, aber eine geringe Geschwindigkeit bieten. Auch Russland entwickelt und setzt bereits eine deutlich schnellere Version mit Strahltriebwerk ein, die die Vorwarnzeit der ukrainischen Verteidiger verkürzt.
Navigation/Zielführung
Die ursprüngliche Shahed waren mit einem kommerziellen Leitsystem ausgestattet, das die Ukraine letztlich recht leicht stören oder sogar ablenken konnte. Die Geran ist komplexer und verfügt oft über eine Variante des russischen Satellitennavigationssystems Kometa-M, das ursprünglich für vier Antennen ausgelegt ist. Im Laufe der Zeit und offenbar je nach Mission, wurde die Anzahl der Antennen erhöht – zunächst auf sechs oder acht, dann auf zwölf und zuletzt auf 16. Mit der Antennenzahl steigt auch die Zahl der elektronischen Kampfführungssysteme, die die Ukraine einsetzen muss, um die Satellitenverbindung zu einer Geran zu unterbrechen. Systeme mit sechzehn Antennen sind daher widerstandsfähiger gegen Störmaßnahmen.
Darüber hinaus tragen einige Geran-Drohnen SIM Karten mit sich, mit denen sie sich mit dem ukrainischen Mobilfunknetz verbinden können. Der genaue Zweck der SIM-Karten und der 4G- Verbindungen zu den Drohnen vom Typ Geran und Shahed ist unklar. Sie könnten eine Datenverbindung zu den Drohnen während des Fluges herstellen oder als zusätzliche Navigationsform mithilfe standortbezogener Dienste dienen, die auf Daten basieren, die von Mobilfunkmasten beim Vorbeiflug der Drohne erfasst werden.
Kürzlich sind über Telegram Bilder aufgetaucht, die angeblich Geran zeigen, die mit niedrig auflösenden Kameras und NVIDIA Jetson Single-Board-Computern ausgestattet sind. Im Verbund könnte dieser Technologie es der Geran ermöglichen, mithilfe von rechnergestützter Bildverarbeitung autonom zu navigieren oder einem Bediener die notwendigen Werkzeuge an die Hand zu geben, um die Drohne präziser auf ein Ziel zu steuern. Dies scheint eine Verlagerung der Geran hin zu einer kombinierten Aufklärungs- und Angriffsplattformen anzudeuten. Die Drohnen sind außerdem mit einer Funksteuerung ausgestattet, mit der ein Benutzer sie auf Entfernungen von bis zu 150 km führen kann. Es sind zudem einige Videos aufgetaucht, die den Einsatz dieser Wirkmittel gegen Ziele an der Front zeigen. Frühere Berichte aus der Ukraine wiesen auch darauf hin, dass Russland beabsichtigt, mithilfe von durch Künstliche Intelligenz geleiteten Shahed und Geran Schwärme zu erzeugen.
Diese Ausrüstung ist allerdings nicht auf jedem Geran vorhanden, die meisten verfügen jedoch über eine SIM-Karte und eine Powerbank, die zur Übertragung von Telemetriedaten nach Russland und zur Information der russischen Führungselemente über den Standort der ukrainischen Flugabwehr mithilfe von Chatbots auf Telegram verwendet werden.
Shahed und Geran – Operationskonzept
Die Geran- und Shahed-Drohnen werden in Wellen von Katapulten in Russland und auf der Krim abgefeuert. Die Wellen folgen häufig im Vorfeld von Aufklärungsdrohnen oder anderen Einsatzmitteln festgelegten Routen, in denen die Ukraine idealerweise weniger Verteidigungsmittel aufweist. Sie fliegen daher oft Umwege, anstatt direkt zum Ziel zu gelangen. Dies scheint ein Versuch zu sein, die Verteidiger zu verwirren und die Platzierung von Verteidigungsanlagen weiter zu erschweren. Hierdurch wird die Flugzeit der Geran- oder Shahed- Drohnen erhöht und somit die Dauer der Angriffe und der dazugehörigen Alarme verlängern.
Ursprünglich flogen die Drohnen auf relativ niedriger Flughöhe, um so die Warnfähigkeit der ukrainischen Flugabwehr zu verringern. Dadurch waren sie jedoch anfällig für die mobilen Flugabwehrtrupps der Ukraine. Daher wurden ihre Flughöhe nach oben korrigiert, wodurch sie für kostengünstigere Flugabwehrsysteme wie Maschinengewehre und Kanonen unerreichbar werden. Und schließlich setzt Russland mit seinen Drohnensalven immer mehr Gerber-Drohnen als Täuschkörper ein. Ausgestattet mit Radarreflektoren imitieren sie die Signatur einer Shahed und erschweren so die Reaktion darauf zusätzlich. Sie erreichen ein Ziel häufig aus mehreren verschiedenen Richtungen und Höhen, was den Druck auf die ukrainischen Verteidiger noch weiter erhöht.
Anmerkung des Autors
Die Shahed ermöglichte Russland die Fortsetzung seiner Angriffe gegen die KRITIS der Ukraine und vereitelte weitgehend die Versuche, eine Luftverteidigung auszubauen und zu stärken. Sollte der Ukraine die Mittel zum Abfangen ausgehen, würden die Massenangriffe erheblichen Schaden anrichten und den Druck erhöhen, den Krieg schnell zu beenden. Dies zwingt die Ukraine, einen Großteil ihrer Ressourcen auf die Luftverteidigung strategischer Ziele statt auf die Frontlinie zu konzentrieren.
Dies war ein kurzer Überblick über die von Russland und dem Iran eingesetzten Shahed-Drohnen. Das Muster wurde rasch weiterentwickelt und verbessert, was die Fähigkeit der russischen Rüstungsindustrie beweist, auf die sich ändernden Anforderungen eines Krieges zu reagieren. Im Falle eines Konflikts mit der NATO wäre es wahrscheinlich, dass die Geran auch als Teil einer kombinierten Flugkörper-Salve eingesetzt würde, was ähnliche Herausforderungen für die Verteidigung des europäischen Luftraums mit sich bringen würde wie sie heue in der Ukraine zu beobachten sind.
Autor: Sam Cranny-Evans. Der Beitrag erschien erstmalig am 30.06.2025 in englischer Sprache auf der hartpunkt-Partnerseite Calibre Defence.