Der Krieg gegen die Ukraine hat erhebliche Mängel in Russlands konventionellen Streitkräften offenbart. Einige argumentieren, dass sich diese Defizite auch auf die nuklearen Fähigkeiten erstrecken könnten. Dieser Beitrag analysiert den Zustand des russischen Nukleararsenals im Jahr 2025 und bewertet die Stabilität der nuklearen Abschreckung angesichts wachsender Herausforderungen.
Instandhaltung des Atomwaffenarsenals
Russland steht vor zwei zentralen Herausforderungen: die Einsatzbereitschaft seiner Sprengköpfe und die Funktionsfähigkeit seiner Trägersysteme. Kurzfristig scheinen beide Herausforderungen überschaubar zu sein, doch mittel- bis langfristig werden sie wahrscheinlich zunehmen.
Nukleare Sprengköpfe
Nukleare Sprengköpfe erfordern regelmäßige Wartung, insbesondere ihrer Plutoniumkerne. Im Falle eines Einsatzes müssen diese durch präzise gezündete konventionelle Sprengstoffe symmetrisch komprimiert werden, um eine Kettenreaktion auszulösen. Abweichungen in Timing oder Symmetrie können die Sprengkraft verringern oder die Detonation komplett verhindern.
Plutoniumkerne degradieren mit der Zeit und müssen in der Regel alle 10 bis 15 Jahre ersetzt werden. Russland dürfte seit dem Zerfall der Sowjetunion mindestens zwei vollständige Erneuerungszyklen durchlaufen haben. Während der Verlust des Fachwissens aus der Zeit des Kalten Krieges eine Herausforderung darstellt, deutet vieles darauf hin, dass das Wissen einigermaßen erfolgreich weitergegeben wurde.
Ein weiteres Problem ist die Tritiumversorgung. Tritium erhöht die Effizienz des Spaltprozesses, zerfällt aber mit einer Halbwertszeit von 12,5 Jahren, sodass regelmäßige Auffüllungen nötig sind. Die Produktion ist technisch anspruchsvoll, doch sofern keine schwerwiegenden Fehler unterlaufen sind, sollte Russland über das nötige Know-how verfügen. Kosten sind ein Faktor: Die Erneuerung der Tritiumvorräte kosten etwa 100.000 Dollar pro Gefechtskopf pro Zyklus. Russland kann die Ausgaben jedoch teilweise durch Tritium-Recycling aus ausgemusterten Sprengköpfen reduzieren.
Insgesamt dürfte Russland seine Sprengköpfe auf absehbare Zeit instand halten können, wenngleich dies erhebliche finanzielle und opportunitätsbedingte Kosten verursacht. Wie andere Atommächte weiß auch Russland, dass Mittel, die in die Nuklearwaffenwartung fließen, anderswo fehlen. In Friedenszeiten ist dies tragbar, doch in einem langwierigen Krieg, wie ihn Russland zurzeit führt, kann es zu einer ernsthaften Belastung werden.
Trägersysteme
Die Herausforderungen bei der Wartung und Modernisierung der russischen Trägersysteme, insbesondere von Interkontinentalraketen (ICBMs) sind möglicherweise deutlich gravierender.
Die letzte wirklich neue russische ICBM-Entwicklung – keine bloße Weiterentwicklung – geht auf die späten 1970er und frühen 1980er Jahre zurück: die RS-12M Topol (SS-25). Sie war die erste sowjetische ICBM mit echter Straßenmobilität. Seither sind alle russischen ICBMs und einige ballistische Raketen mit kürzerer Reichweite Weiterentwicklungen bestehender Systeme:
- RS-12M2 Topol-M (SS-27 Mod. 1) – Eine Weiterentwicklung der RS-12M Topol.
- RS-24 Yars (SS-29 Mod. 2) – Eine MIRVed-Version der Topol-M.
- RS-28 Sarmat (SS-X-30) – Ein Nachfolger der R-36M2 (SS-18) unter Beibehaltung des gleichen Konzepts für schwere Trägerraketen angetrieben mit Flüssigtreibstoff.
- UR-100NUTTH mit Avangard (SS-19 M4) – Eine modifizierte sowjetische UR-100N mit Hyperschall-Gleitkörper.
- RS-26 Rubezh (Vorläufer der Oreshnik) – Eine verkleinerte RS-24 Yars.
In den vergangenen 40 Jahren hat Russland also keine gänzlich neue ICBM eingeführt, sondern nur bestehende Systeme modifiziert oder reaktiviert.
Noch besorgniserregender aus russischer Sicht ist die verzögerte Entwicklung der RS-28 Sarmat. Der ursprünglich für 2018 geplante Einsatz verzögert sich weiter, und der jüngste Test im September 2024 endete mit einem Fehlschlag. Diese Verzögerungen deuten auf systemische Defizite in der russischen Rüstungsindustrie hin – insbesondere auf mangelndes Know-how in der Entwicklung und Produktion von schweren ICBMs.
Russland hat sein ICBM-Arsenal bislang durch die Nutzung von Ersatzteilen aus ausgemusterten Raketen instandgehalten, die im Rahmen von Abrüstungsabkommen mit den USA aus dem Arsenal entfernt wurden. Unklar ist, wie lange dieser Vorrat noch reicht. Da er jedoch begrenzt ist, wird Russland auf mittlere bis lange Sicht moderne Alternativen entwickeln müssen.
Zuverlässigkeitsprobleme bei Trägersystemen sind gravierender als bei Sprengköpfen. Da ICBMs meist mehrere Sprengköpfe tragen, kann der Ausfall einer einzelnen Rakete den Verlust mehrerer Gefechtsköpfe bedeuten.
Bei taktischen Trägersystemen sieht die Lage besser aus. Der Ukraine-Krieg hat gezeigt, dass Russland ballistische Kurzstreckenraketen und Marschflugkörper in großer Zahl produzieren kann. Diese Systeme könnten im Krisenfall als nukleare Träger genutzt werden, obwohl sie keine Bedrohung für das US-Festland darstellen. Während westliche Sanktionen die Zuverlässigkeit und Präzision dieser Raketen beeinträchtigt haben, hat Russland Ersatzlösungen gefunden. Daher dürfte das nicht-strategische Nukleararsenal mittel- bis langfristig stabiler sein als die strategischen Nuklearstreitkräfte.
Auswirkungen
Was bedeutet das für Russlands nukleare Abschreckung? Die verfügbaren Daten reichen nicht aus, um eine pauschale Einschätzung zur Robustheit des Arsenals zu treffen. Die Behauptung, dass Russland keine funktionierende nukleare Abschreckung mehr besitzt, lässt sich auf Basis der verfügbaren Daten jedoch auf keinen Fall stützen.
Dennoch stehen insbesondere die strategischen Nuklearstreitkräfte vor erheblichen Herausforderungen. Russland muss eine nachhaltige ICBM-Produktion sicherstellen – was derzeit nicht zu gelingen scheint. Das Hauptproblem basiert weniger auf finanziellen Engpässen als tiefgreifende strukturelle Defizite in der Rüstungsindustrie.
Russland ist mit diesen Schwierigkeiten nicht allein. Großbritannien hat Mühe, seine nukleare Abschreckung zu erhalten, und ist stark auf die USA angewiesen. Die USA wiederum kämpfen mit Kostenüberschreitungen und Verzögerungen bei ihrem neuen ICBM-Programm, da auch dort das Fachwissen aus der Zeit des Kalten Krieges verloren gegangen ist. Der Unterschied: Die USA verfügen über die finanziellen Mittel und einen größeren Talentpool, um das Problem effektiv anzugehen.
Mit Blick auf die Zukunft scheinen zwei Entwicklungen besonders relevant:
Russlands Abschreckung könnte weniger robust sein als die Chinas. Traditionell galt Russlands Arsenal als das verlässlichste unter den Gegnern der USA, während Chinas Fähigkeit zur gesicherten Zweitschlagkapazität als begrenzt angesehen wurde. Doch während Russland zunehmend Schwierigkeiten hat, sein Arsenal zu erhalten, steigert China sowohl die Zahl seiner Sprengköpfe als auch die Produktions- und Wartungskapazitäten.
Russland könnte die Rolle nicht-strategischer Atomwaffen ausweiten. Sollte die Fähigkeit, ein glaubwürdiges ICBM-Arsenal zu unterhalten, weiter sinken, könnte Moskau seine strategische Abschreckung teilweise durch den verstärkten Einsatz taktischer Nuklearwaffen ersetzen. Es wäre denkbar, dass künftige russische Strategiedokumente eine erweiterte Rolle für nicht-strategische Nuklearwaffen postulieren, etwa im Bereich des „Countervalue Targeting“ gegen europäische Städte.
Russlands Nuklearstreitkräfte stehen damit vor einer ungewissen Zukunft – die strategische Abschreckung wird vor allem von den Entwicklungen in der russischen Rüstungsindustrie abhängen.
Autor: Fabian Hoffmann ist Doktorand am Oslo Nuclear Project an der Universität Oslo. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Verteidigungspolitik, Flugkörpertechnologie und Nuklearstrategie. Der Beitrag erschien erstmalig am 9.02.2025 in englischer Sprache im „Missile Matters“ Newsletter auf Substack.