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Ausbleiben der „mentalen Zeitenwende“ verhindert Kriegstüchtigkeit der Bundeswehr

Waldemar Geiger

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Die Bundeswehr soll abschreckungsfähig und kriegstüchtig werden, um so einen Beitrag zur effektiven Bündnisverteidigung zu leisten. Das Ziel ist dabei, einem potenziellen Gegner ein unmissverständliches Signal zu senden, dass jegliche Aggression gegen das Bündnis mit einem unausweichlichen Scheitern enden würde. Soweit die Theorie und öffentlich bekundete Anspruchshaltung der Bundesregierung, die gelebte Praxis ist eine gänzlich andere.

Der Bundeswehr fehlt es an allem: es fehlt an Personal, es fehlt an Munition, Flugzeugen, Panzern und Schiffen. Auch Haushaltsmittel und Zeit (für die Ausbildung und das fristgerechte Erreichen von NATO-Zusagen) für der Einsatzfähigkeit, Verteidigungsfähigkeit bzw. Kriegstüchtigkeit – Begriffe die de facto das gleiche nur anders ausdrücken – werden als unzureichend betrachtet. Dieser oberflächlichen Zustandsbeschreibung werden vermutlich die wenigsten widersprechen können.

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Als Grundbaustein der Problemlösung, so kann man es den aktuellen Wahlprogrammen der meisten Parteien entnehmen, wird die Anhebung des Verteidigungsbudgets gesehen. Gestritten wird vornehmlich über das Ausmaß der Erhöhung und die Refinanzierung. Problem gelöst könnte man meinen, die Bundeswehr wird mit den zusätzlichen Mitteln also in den nächsten 5, 10 oder 15 Jahren alle jene Baustellen schließen können, die sich in den letzten 35 Jahren aufgetan haben. Der Eintritt dieses Falls ist jedoch äußerst unwahrscheinlich.  Das Risiko bleibt groß, dass sich wenig ändert, da es keinen Automatismus zwischen einer besseren Finanzierung der Bundeswehr und einer sich daraus ergebenden Kriegstüchtigkeit und Abschreckungsfähigkeit gibt.

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Neben der desolaten Finanzlage wird die deutsche Verteidigungspolitik mindestens in gleichem Maße durch eine fast schon fetischistische Risikoaversion geplagt. Die Risikostrategie der modernen deutschen Gesellschaft besteht nicht in darin, Risiken zu minimieren, sondern diese gänzlich zu vermeiden. Eine Abschreckungsfähigkeit oder Kriegstüchtigkeit lässt sich in einem solchen Umfeld per Definition niemals erreichen. Die bestausgerüstete und ausgebildete Armee der Welt kann nicht abschrecken, wenn ein potenzieller Feind weiß, dass die deutsche Gesellschaft den Einsatz dieser Bundeswehr nicht will und diesen verhindern wird. Und genau diese Signale sendet Deutschland täglich in die Welt.

Erst wenn sich Deutschland besinnt, dass der Einsatz von Streitkräften – vom Hackback über den Einsatz von Spezialkräften bis hin zur Entsendung großer Truppenverbände – ein legitimes Mittel, wenn auch Ultima Ratio, der Politik darstellt, wird die Grundlage für eine Abschreckungsfähigkeit der Bundeswehr geschaffen. Dieser „Hausaufgabe“ muss sich neben der Gesellschaft und der Politik auch die Bundeswehr stellen. Denn auch die Streitkräfte vermitteln nicht gerade den Eindruck, dass das Erreichen der Kriegstüchtigkeit und Abschreckungsfähigkeit höchste Priorität genießen würde. Zu große Teile der Bundeswehr haben es sich zu bequem gemacht in der „Gemütlichkeit“ der Friedensarmee Bundeswehr.

Beispiele dafür gibt es sowohl in der Struktur, dem Beschaffungswesen als auch im alltäglichen Dienstbetrieb. Es kann nun wahrlich nicht behauptet werden, dass die Jahre nach 2014 oder 2022 dazu genutzt wurden, die Bundeswehr mit äußerster Intensität in Richtung Einsatzfähigkeit, Kaltstartfähigkeit, Kriegstüchtigkeit oder Abschreckungsfähigkeit zu trimmen. Ja, es gehört zur Wahrheit, dass die Bundeswehr seit Jahrzehnten unterfinanziert ist, es gehört aber genauso zur Wahrheit, dass die Bundeswehr ihre Mittel, nicht gänzlich dazu genutzt hat, um die Speerspitze der Streitkräfte zu schärfen. Denn auch für die Streitkräfte gilt die Regel, dass jeder Euro nur einmal ausgegeben werden kann. Und wenn man zu wenige Euros hat, muss man sich die Frage stellen, wo diese im Sinne der Kriegstüchtigkeit und Abschreckungsfähigkeit besser angelegt sind, in einem Segelschulschiff oder Kampfbooten, in neuen Dienstanzügen oder Artilleriesystemen, in Personalausgaben für Protokollverbände – wie beispielsweise Musikcorps oder dem Wachbataillon – oder in zusätzlichen regulären Truppenverbänden. Um nicht falsch verstanden zu werden: Sowohl die Gorch Fock, die Musikcorps als auch die Sportfördergruppen haben eine Daseinsberechtigung in der Bundeswehr –  für die Abschreckungsfähigkeit leisten diese jedoch nicht den gleichen Beitrag wie die für den tatsächlichen Einsatz befähigte Truppenteile.

Gleiches gilt für das Beschaffungswesen, wo die Abgasanlage eines Kriegsschiffes eine ähnlich wichtige Rolle eingenommen hat wie die Bewaffnung. Über Forderungscontrolling wird zwar viel gesprochen, aber eine durchgehende und im Sinne der Kriegstüchtigkeit und Abschreckungsfähigkeit erkennbare Hierarchie zwischen ballistischem Schutz, Arbeitsschutz, Datenschutz, usw. ist bis heute nicht erkennbar.

Juristische Unanfechtbarkeit und Absicherungsmentalität im Falle von Zielkonflikten sind bis heute noch prägend für das Beschaffungswesen der Bundeswehr – welches deutlich über das Bundeswehr-Beschaffungsamt BAAINBw hinausgeht. Zu oft werden die angesprochenen Zielkonflikte durch Inkaufnahme einer höheren Komplexität aufgelöst, die zwangsläufig in höheren Kosten und einem verspäteten Zulauf enden. Zeit und Geld, dass die Bundeswehr an anderer Stelle gut gebraucht hätte in den letzten Jahrzehnten.

Zusätzliche Zeit könnte die Bundeswehr auch in der Ausbildung gut gebrauchen. Aber auch da hat sich in den letzten Jahren nicht ausreichend viel bewegt. Die thematischen Ansprüche in der Ausbildung werden immer mehr, die dafür zur Verfügung stehende Zeit wächst jedoch nicht im gleichen Maße. Während beispielsweise das Schanzen in einer jüngst vom Heer erlassenen Ausbildungshilfe als eine wesentliche Maßnahme zum Schutz vor Drohnen – „Schanzen ist die wichtigste Maßnahme gegen die UAS-Bedrohung“, heißt es in der Ausbildungshilfe wörtlich – identifiziert wurde, verbringt der in der Grundausbildung befindliche Soldat immer noch mehr Zeit mit dem Formaldienst als mit dem „Schwingen“ des Klappspatens. Auch hier gilt: Tradition und Formaldienst sind wichtig, wichtiger ist jedoch, der Truppe die entsprechenden Fähigkeiten an die Hand zu geben, damit diese auf dem Gefechtsfeld überleben kann. Mit Blick auf viele andere kampferprobte Armeen der Welt kann man sich schon die Frage stellen, ob man nicht doch etwas weniger Formaldienst und noch ein paar andere Ausbildungsabschnitte kürzen und die gewonnene Zeit für andere, wichtigere Dinge nutzen sollte.

Die Bundeswehr kann auch ohne zusätzliche Mittel einiges dafür tun, um einen höheren Grad an Kriegstüchtigkeit und Abschreckungsfähigkeit zu erreichen. Dafür bedarf es aber einer „mentalen“ Zeitenwende in den Köpfen vieler uniformierter Entscheidungsträger. Wenn diese „mentale“ Zeitenwende dann auch noch von der deutschen Gesellschaft mitgetragen wird, werden sicher auch die für die Ertüchtigung der Truppe – in quantitativer und qualitativer Hinsicht – dringend benötigten Haushaltmittel folgen.

Waldemar Geiger