Sollte Russland in der Zukunft NATO-Partnerländer an der Ostflanke des Bündnisses angreifen, würde vermutlich auch Deutschland zum Schauplatz von Kampfhandlungen. Die räumliche Entfernung zu einer Front im Baltikum oder Polen dürfte die Bundesrepublik kaum schützen. Denn die täglichen russischen Angriffe mit Langstreckenwaffen wie ballistischen Raketen, Hyperschall-Flugkörpern, Cruise Missiles und Drohnen auf Ziele tief in der Ukraine zeigen, dass Entfernung in einem modernen Krieg relativ ist.
Nach Einschätzung des stellvertretenden Inspekteurs der Luftwaffe, Generalleutnant Lutz Kohlhaus, würde ein zukünftiger Krieg auch in Deutschland stattfinden. Wie er am Mittwoch auf dem Ground Based Air Defence Summit der CPM GmbH in Berlin betonte, bombardieren die russischen Streitkräfte unterschiedslos zivile Wohngebiete, Kirchen, Krankenhäuser, Theater und Kindergärten. Angegriffen würden auch logistische Verbindungslinien, darunter Sanitätseinrichtungen. „Die Frage des Kriegsvölkerrechts spielt in Putins Armee offenbar keine Rolle“, sagte der zweithöchste Offizier der Luftwaffe. Das werde auch so bleiben. Seinen Worten zufolge kommt Deutschland als logistische Drehscheibe für die Anlandung und den Weitertransport von alliierten Verstärkungen und Material als Ziel russischer Angriffe in Frage.
Vor diesem Hintergrund spiele der Einstieg in die territoriale Flugkörperabwehr mit dem System Arrow 3 eine „große Rolle“. Deutschland beschafft gegenwärtig von Israel das außerhalb der Atmosphäre wirkende System, mit dem ballistische Raketen abgeschossen werden können. Die ersten Komponenten sollen bereits im Jahr 2025 vor Ort sein. Erst am Wochenende haben die israelischen Streitkräfte verschiedene Arrow-Systeme zur Abwehr ballistischer Raketen aus dem Iran eingesetzt. Zeitweilig sollen über 100 dieser Luftkriegsmittel gleichzeitig im Anflug auf Israel gewesen sein.
Experten gehen davon aus, dass das neue Waffensystem bei voller Einsatzfähigkeit aufgrund der großen Reichweite sowohl der Sensoren als auch der Effektoren Teile von Nachbarländern gegen Angriffe ballistischer Raketen absichern kann. Nach Erreichen der Full Operational Capability soll Arrow einen 360-Grad-Schutz für Deutschland bieten. Dazu dürften vermutlich neben den zu beschaffenden Arrow-Radaren auch die Sensoren der von den US-Streitkräften betriebenen Aegis-Ashore-Einrichtungen in Polen und Rumänien sowie eines AN/TPY2-Radars in der Türkei genutzt werden.
Bereits am Dienstag während des ersten Tages der Veranstaltung hatte Kohlhaus gemutmaßt, dass sich in zehn bis fünfzehn Jahren womöglich weitere Länder an der territorialen Flugkörperabwehr der Bundeswehr beteiligen könnten.
Wie der Generalleutnant ausführte, wird die Luftwaffe im Rahmen des Operationsplans Deutschland im Konfliktfall mögliche Einsätze am Ostrand der NATO von ihren Heimatbasen in Deutschland aus fliegen, da die Entfernungen nicht so groß seien. Eine Verlegung werde nicht geplant. Gleichzeitig würden die heimischen Flugplätze zur Aufnahme von Verstärkungskräften aus Nordamerika sowie von Ersatzteilen, Munition und technischer Ausstattung der Alliierten benötigt. Das mache sie zu „Hochwertobjekten“, die in die NATO-Luftverteidigung einzubeziehen und zu verteidigen seien. Kohlhaus räumte gleichzeitig ein, dass die gegenwärtigen bodengebundenen Luftverteidigungskräfte dafür nicht ausreichen. Hier werde man sich Lösungen überlegen müssen.
An die anwesenden Industrie-Vertreter gerichtet, forderte der Generalleutnant in Zukunft Systeme für die bodengebundene Luftverteidigung, die nicht mehr Personal und Ausbildung als die heutigen benötigen. Wichtig sei überdies eine erhöhte Mobilität sowie Human-Machine-Schnittstellen, die sich an den von jungen Menschen genutzten modernen Apps wie Instgram und Tiktok orientierten. Denn nach Einschätzung des Generals spielt das Personal für die Luftverteidigung eine Schlüsselrolle. In Zukunft gehe es auch darum, die „Kampf-Leistungsfähigkeit“ von Systemen zu verbessern. Diese stelle das Verhältnis von Feuerkraft zu den eingesetzten Ressourcen, also Material und Personal, dar.
Aufgrund der gegenwärtig festzustellenden zunehmenden Eskalation in Europa wünscht sich der Luftwaffen-Offizier überdies eine hohe Geschwindigkeit bei der Beschaffung und der Integration von neuen Waffensystemen. Als Beispiel könnte die Einführung der Iris-T SLM dienen, die als Sofortbedarf bereits ab diesem Jahr zuläuft, und dann nachträglich ab 2028 in das umfassendere Projekt Nah- und Nächstbereichsschutz (NNbS) integriert werden soll.
Lars Hoffmann