Anzeige

Zepter anstatt Kettensäge – Tiberius will mit Sceptre-Granate den Artilleriemunitionsmarkt umkrempeln

Sam Cranny-Evans

Anzeige

Das US-Start-up Tiberius Aerospace hat den sogenannten Stealth-Modus – der Zeitpunkt, ab dem Technologieunternehmen anfangen, öffentlich zu wirken – verlassen und will nun mit der Sceptre den Markt für Artilleriemunition umkrempeln. Bei der Sceptre (Englisch für Zepter) handelt es sich um eine 155-mm-Artilleriegranate mit Staustrahlantrieb, die präzise Schläge bis zu einer Reichweite von 150 km ermöglichen soll.

Die Finanzierung der Entwicklung von Sceptre erfolgte „durch eine Partnerschaft aus privatem und öffentlichem Kapital. Der Großteil dieser Finanzierung ist privat – öffentliches Kapital war jedoch für die Freigabe der Systemqualifikation unerlässlich“, erklärte Andy Baynes, Chief Strategy Officer bei Tiberius, gegenüber der hartpunkt-Partnerseite Calibre Defence. Das Unternehmen strebt den Einstieg in der Produktion bis Ende des Jahres an.

Anzeige

Die Systemqualifizierung umfasste auch Testschüsse in den USA, die in den kommenden Wochen fortgesetzt werden sollen, fügte Baynes hinzu und betonte, dass das Unternehmen „einen Design-Test-Zyklus verwendet, der die Entwicklung und Validierung beschleunigt, um Entwicklungsgeschwindigkeiten zu erreichen, die eher den Softwaremodellen des Silicon Valley entsprechen.“ Die Testschüsse wurden mit einer M777-Haubitze in den USA durchgeführt, und das Unternehmen arbeitet daran, Sceptre für andere Waffensysteme mit automatischen Ladern zu qualifizieren.

Anzeige

Bei der Entwicklung verfolgt das Unternehmen einen Ansatz, der oftmals als“ continuous integration/continuous deployment“ bezeichnet wird und bei dem die Systeme während ihres gesamten Lebenszyklus kontinuierlich weiterentwickelt werden. Dies ist ein in der Rüstungsindustrie zunehmend verbreitetes Phänomen, bei dem Technologieunternehmen wie Anduril und Helsing Produkte bereits in einer frühen Phase – in der das Produkt noch nicht über alle Fähigkeiten verfügt – in die Nutzung bringen, um dieses im Zuge der Evaluierung und Nutzung stetig weiterzuentwickeln, bis das volle Potenzial ausgereizt ist. Tiberius kann eigenen Angaben zufolge das Produktdesign anpassen und überarbeiten und das überarbeitete Produkt innerhalb von drei Wochen zur erneuten Validierung vorlegen.

Der Kostenfaktor des Waffeneinsatzes

Ein weiterer Haupttreiber für die aktuellen Entwicklungen sind die Kosten, da insbesondere westliche Systeme sehr oft als teuer angesehen werden. Von der F-35 bis hin zu Handwaffen und Munition zahlen westliche Streitkräfte in der Regel mehr für ihre hochentwickelten Waffensysteme und Munition, was bei den zwar größeren, aber dennoch begrenzten Budgets die mögliche Beschaffungsmenge reduziert. Aus diesem Grund hat Tiberius Sceptre so konzipiert, dass es für Munition seiner Klasse kosteneffizient ist.

„Pro Granate kostet Sceptre weniger als zehn Prozent der Kosten einer GMLRS-Rakete.  Dieser Kostenfaktor wirkt sich noch stärker zugunsten von Sceptre aus, wenn man den logistischen Aufwand vergleicht. Sceptre wurde entwickelt, um Reichweite, Präzision und Masse zu erreichen“, erklärt der Chief Strategy Officer. Die Stückkosten der Granate ohne Nutzlast und Treibstoff belaufen sich derzeit auf 52.000 US-Dollar (39.156 £/ 46.592 €) und könnte im Zuge einer Serienproduktion auf 42.000 US-Dollar (31.626 £/ 37.632 €) gesenkt werden, so Baynes in einem Briefing am 19. Mai.

Tiberius ist der Ansicht, dass Munition unter dem Gesichtspunkt der kosteneffektiven Wirkung betrachtet werden sollte, bei dem der Kostenfaktor einer Zielbekämpfung im Vordergrund steht. Zu diesem Zweck ist das Unternehmen auch offen für andere Unternehmen, die die Granate gegen eine Gebühr von 25 Prozent herstellen können, wenn sie sie zu niedrigeren Kosten produzieren könnten. Die Munition wird mit leicht verfügbaren Werkzeugen wie additiver Fertigung und Standard-CNC-Werkzeugmaschinen hergestellt, so dass die Lieferkette und die Fertigungsmöglichkeiten von der Standardmunition mit 155 mm Durchmesser getrennt sind. Tiberius produziert die Geschosse nicht selbst, für Herstellung der Munition für die Testkampagne hat das Unternehmen eigenen Angaben nach mit über 20 anderen Unternehmen zusammengearbeitet. Auch die Streitkräfte selbst können sich nach Angaben von Chad Steelberg, einem Mitbegründer von Tiberius, Zugang zum Sceptre-Granatendesign verschaffen, indem sie eine Zugangsgebühr in Höhe von 5 Millionen US-Dollar und im Anschluss eine jährliche Herstellungsgebühr in Höhe von 2,5 Millionen US-Dollar bezahlen. Auf diese Weise könne das Unternehmen seine besten Ingenieure mit der Modifizierung und Weiterentwicklung der Sceptre-Granate beschäftigen, wobei die Zyklen für neue Produkte eher denen von Technologieunternehmen wie Apple entsprächen als denen der traditionellen Entwicklung von Rüstungsprodukten, erklärte Steelberg weiter.

Die Artillerierakete ER GMLRS – Extended Range Guided Multiple Launch Rocket System – ist ein interessanter Vergleich, da es ebenfalls in der Lage ist, präzise Schläge mit einer Reichweite von bis zu 150 km auszuführen. Sie kann von den Raketenartilleriesystemen M270 MLRS und M142 HIMARS abgefeuert werden und stellt realistisch gesehen die größte Reichweite einer Artilleriefähigkeit auf Brigadeebene dar. Raketen mit größerer Reichweite, wie die Precision Strike Missile oder die CTM-290, die vom südkoreanischen Artillerieraketensystem Chunmoo verschossen werden, würden wahrscheinlich auf einer höheren Führungsebene eingesetzt werden. Als Rohrartilleriemunition könnte Sceptre den Streitkräften eine größere Vielfalt an Optionen zur Bekämpfung von Zielen bieten, die sich außerhalb der unmittelbaren Frontlinie befinden.

Tiberius Aerospace ist ein US-amerikanisches Unternehmen, was bedeutet, dass „Sceptre kurzfristig in den USA hergestellt werden wird, aber das Tiberius-Modell ist so konzipiert, dass es den Ausbau der einheimischen Produktionsbasis jedes souveränen Landes ermöglicht“, sagte Baynes. „Dies demokratisiert die Fertigung und fördert eine wettbewerbsfähige Landschaft, die dem Nutzer zugutekommt“, fügte er hinzu und sprach damit ein Thema an, das für viele westliche Länder von zentraler Bedeutung ist. „Jeder will eine heimische Produktion“, führte eine Industriequelle Ende 2024 gegenüber Calibre Defence an, und viele jüngste Ankündigungen zeigen dies. Der Ansatz von Tiberius, zunächst mit einer Produktion in der Nähe des eigenen Landes zu beginnen und dann entsprechend dem Exporterfolg zu expandieren, ist also sinnvoll.

Sceptre ist nicht die einzige Langstrecken-Präzisionsartilleriegranate auf dem Markt: General Atomics entwickelt beispielsweise das Long-Range Manoeuvring Projectile (LRMP). LRMP bietet eine Reichweite von 120 km aus konventionellen 155mm-Geschützen und gleitet zum Ziel. „LRMP und Sceptre gehen vom gleichen Ausgangspunkt aus – beide versuchen, die Reichweite der 155-mm-Haubitze zu erhöhen und gleichzeitig die Präzision zu verbessern.  Sceptre nutzt die Staustrahltechnologie, um die Leistung von LRMP zu übertreffen und gleichzeitig die Kosten auf fast die Hälfte von Excalibur zu senken. Für den Soldaten bedeutet dies die Möglichkeit, präzise chirurgische Schläge durchzuführen oder das Feuer zu bündeln“, betonte Baynes.

Zum Vergleich: Die Kosten für eine Excalibur-Granate werden oft auf 100.000 US-Dollar (ca. 79.365 £/92.593 €) geschätzt, während eine einzelne GMLRS-Rakete für Exportkunden schätzungsweise 168.000 US-Dollar (133.333 £/ 155.556 €) und eine ER GMLRS bis zu 500.000 US-Dollar (396.825 £/ 462.963 €) kostet. Der große Unterschied zwischen der Sceptre-Granate und GMLRS-Raketen ist der Gefechtskopf. Die maximale Nutzlast von Sceptre beträgt 5,2 kg, während eine M31-GMLRS-Rakete über einen 90 kg schweren Gefechtskopf verfügt. Dies kann für manche Ziele eine zu hohe Nutzlast sein, und der Ansatz des Unternehmens zielt darauf ab, die Anpassung der Waffe an das Ziel zu optimieren und gleichzeitig die Genauigkeit auf die Entfernung beizubehalten, erklärte Baynes in Bezug auf die Unterschiede in der Nutzlast.

Technisches Profil der Sceptre-Artilleriegranate

Sceptre ist eine mittels eines Staustahltriebwerks angetriebene 155-mm-Arilleriemunition mit einem semi-ballistischen Flugprofil und einer erweiterten Reichweite und Präzisionslenkung, die für den Verschuss aus Standard-155mm-Artilleriesystemen ausgelegt ist.

Flugprofil und Komponentenzusammensetzung der Sceptre-Artilleriegranate
Flugprofil und Komponentenzusammensetzung der Sceptre-Artilleriegranate (Bild: Tiberius Aerospace)

Die Granate wird mit einer Standard-Treibladung abgefeuert, die der Granate den Anfangsantrieb und die Geschwindigkeit verleiht, damit der Staustrahl zünden kann. Die Granate erreicht innerhalb von sechs Sekunden nach dem Abschuss eine Geschwindigkeit von Mach 3,5 und eine Höhe von über 65.000 Fuß (außerhalb der Störungsreichweite). Das Staustrahltriebwerk wird mit sieben Litern Diesel, JP-4 oder JP-8 und einer Just-in-Time-Methode betrieben, bei der das Geschoss vor Ort aufgetankt wird; dieser Vorgang dauert nur wenige Sekunden, so Baynes. Die gewählte Methode bietet zudem den Vorteil einer Lagerfähigkeit der Munition von bis zu 20 Jahren, was doppelt so lang ist wie die eines Feststoffraketenmotors, der normalerweise in Raketen verwendet wird.

Sceptre hat eine erweiterte Reichweite von bis zu 150 km, abhängig von der Nutzlast, die bei Verwendung von konventionellem TNT maximal 5,2 kg betragen kann, und kann zudem mit Splitterhülsen versehen werden. Tiberius sieht Secptre als eine probate Munition für die Bekämpfung von gehärteten Hochwertzielen, dazu ist die Granate mit einem Wolframkern ausgestattet, um die Durchschlagskraft zu erhöhen. Die kreisförmige Fehlerwahrscheinlichkeit (CEP) wird mit 3,5 bis 5 m angegeben, selbst in GNSS-gestörter Umgebung. Das Gesamtgewicht der Granate beträgt 47,5 kg, die Länge 1,55 m.

Das Zündsystem und die begrenzten Kontaktpunkte im Rohr minimieren die Abnutzung des Rohrs, und die Granate kann mit den vorhandenen Standardzündern für 155-mm-Artilleriemunition verwendet werden. Die Sceptre verfügt über eine modulare, offene Architektur, die künftige Software- und Hardware-Upgrades erleichtern soll, darunter auch ein Sensor, mit dem die Munition auch für die Bekämpfung beweglicher Ziele ertüchtigt werden soll, falls dies vom Kunden gewünscht wird, so Baynes weiter.

Das Lenksystem verfügt über eine einfache Benutzeroberfläche für die Zielauswahl und unterstützt eine offene API für die Integration von Feuerleitplattformen von Drittanbietern. Während des Fluges synchronisieren sich der bordeigene GPS-Sensor sowie die Trägheitsnavigationsmesseinheit und nutzen eine fortschrittliche künstliche Intelligenz zur Fehlerkorrektur auf das gewünschte Zuverlässigkeitsniveau, so dass die Nutzung in Umgebungen mit gestörtem oder fehlendem GPS-Signal möglich ist, heißt es in den von Tiberius veröffentlichten Spezifikationen. Bei Bedarf können mehrere Munitionen während des Fluges miteinander kommunizieren, um die Ziellösung weiter zu verfeinern – ein Ansatz, der sich bei der Navigation ohne GNSS immer größerer Beliebtheit erfreut.

Firmenprofil: Tiberius Aerospace

Tiberius Aerospace wurde 2022 gegründet, um einen neuen Ansatz für die Verteidigungstechnologie zu entwickeln, der sich stärker an den Praktiken im Silicon Valley orientiert. Dies bedeutet in der Regel eine schnelle Entwicklung mit frühzeitiger Produktbereitstellung, gefolgt von weiteren Fehlersuchen und Plug-in-Upgrades.

Tiberius entwickelt ein „Defence-as-a-Service“-Modell, das die Innovation von der Produktion entkoppelt und eine schnelle Iteration, eine souveräne Zusammenarbeit und eine kontinuierliche Weiterentwicklung der Fähigkeiten für das Vereinigte Königreich, die USA und ihre engsten Verbündeten ermöglicht, so das Unternehmen. Das Unternehmen beschäftigt derzeit 20 Mitarbeiter, darunter viele Ingenieure, und gibt rund 90 Prozent seines Budgets für Innovationen aus, wie Steelberg im Rahmen eines Briefing vor britischen Medienvertretern am 19. Mai erklärte.

Das Unternehmen wurde von Chad Steelberg mitbegründet, einem Serienunternehmer, der Veritone mitbegründet hat, ein amerikanisches Technologieunternehmen für Künstliche Intelligenz (KI), das eine Reihe von KI-Software, -Anwendungen und -Dienstleistungen für kommerzielle und staatliche Organisationen anbietet. In den frühen 1990er Jahren gründete Chad Steelberg außerdem mehrere Werbeunternehmen und rief Tiberius Aerospace ins Leben, um die Herausforderungen der modernen Kriegsführung zu bewältigen, wie er selbst ausführt. Zusammen mit seinem Mitbegründer vertritt er der Meinung, dass ein neuer Ansatz für Innovation und Produktion erforderlich ist. Andy Baynes ist Chief Strategy Officer bei Tiberius und Mitgründer von Steelberg. Baynes war zuvor in Führungspositionen bei Nest, Google und Apple tätig und ist seit 2019 Mitbegründer eines Unternehmens namens GT, das 200 Technikspezialisten aus der Ukraine, Polen, Rumänien und der Türkei in den Bereichen Softwareentwicklung, Datenwissenschaft und Produktdesign beschäftigt.

Autor: Sam Cranny-Evans. Der Beitrag erschien erstmalig am 19.05.2025 in englischer Sprache auf der hartpunkt-Partnerseite Calibre Defence.