Das Spezialkräftekommando der ukrainischen Streitkräfte hat bereits im September ein Bulletin zur Nutzung von Flinten zur Drohnenabwehr auf der russischen Seite veröffentlicht. Das insgesamt 30-seitige Dokument, welches hartpunkt vorliegt, gliedert sich in sechs Sektionen und widmet sich der Nutzung und Taktik, Vorteilen, Limitationen und potenziellen Gefahren auf Seiten der russischen Streitkräfte. Ziel der Publikation ist es, die eigenen Kräfte über die Abwehrmöglichkeiten, insbesondere von FPV-Drohnen zu unterrichten und mögliche Lehren und Optimierungsmöglichkeiten des Einsatzes unbemannter Luftfahrzüge zu ermöglichen.
Das Dokument mit dem Titel „Einsatz von 12-Kaliber-Flinten gegen Drohnen durch russische Streitkräfte“ sortiert Drohnen (UAS) als unverzichtbares und kostengünstiges Mittel zur Aufklärung, Feuerlenkung und als Wirkmittelträger ein. Daher habe sich die russische Seite, wie die ukrainische auch, für ein ebenfalls kostengünstiges und weit schnell verfügbares Wirkmittel zur Abwehr in Form der Schrotflinte im Kaliber 12 entschieden. Dabei ist offenkundig, dass die Effizienz der Flinte sich auf den absoluten Nahbereich beschränkt und nur tief und vergleichsweise langsam fliegende Ziele effektiv bekämpft werden können.
Laut den Autoren hat die Bedrohung durch UAS im Allgemeinen und FPV-Drohnen im Besonderen für die russischen Streitkräfte solch eine Dimension angenommen, dass in Frontnähe jedem offenen Fahrzeug, welches ein Wirken von der Ladefläche aus ermöglicht und auch auf Gruppenebene marschierenden Soldaten ein Flintenschütze beigestellt werden soll. Bei Fahrzeugen habe sich insbesondere das Sichern entgegen der Fahrrichtung als sinnvoll erwiesen, da die meisten Angriffe durch FPV-Drohnen aus dieser Richtung erfolgen würden. Inwieweit dies wirklich flächendeckend umgesetzt werden kann und in welcher Tiefe diese Maßnahmen, wenigstens organisatorisch vorgesehen sind, ist nicht Gegenstand der Betrachtungen.
Die Abwehr der ukrainischen Drohnen beginnt auch im Nahbereich mit der Detektion. Dazu verwende die russische Seite laut der ukrainischen Analyse mit Masse den passiven Drohnenwarner des Typs Bulat-3, welcher laut Hersteller eine Rundumabdeckung ermöglicht. Entgegen den Herstellerangaben wird die tatsächliche Reichweite auch des bereits verfügbaren Nachfolgemodells Bulat-4 von ukrainischer Seite mit 50 Prozent geringer eingeschätzt. Eine sichere Detektion sei erst aus einer Distanz von maximal 1.000 m möglich. Die Flintenschützen agieren dabei nicht auf sich gestellt, sondern im Verbund mit Mitteln der elektronischen Kampfführung, welche bereits auf größere Distanz einen Effekt erzielen können. Neben der reinen Abwehr beobachten die russischen Streitkräfte auch die An- und Abmarschwege der ukrainischen Drohnen. Dies wird durch den teilweise recht statischen Frontverlauf begünstigt. Anhand der erkannten Bewegungsmuster der Drohnen legen die russischen Kräfte Hinterhalte mit mehreren Flintenschützen. Diese werden temporär bemannt, um beispielsweise die Bewegung eigener Kräfte zu decken. In all den genannten Fällen verdichten zudem in der direkten Umgebung befindliche Einzelschützen das Feuer der Drohnenabwehrflinte mit der persönlichen Handwaffe oder auch dem Maschinengewehr.
Russische Flinten und Munitionstypen
Neben einfachen zivil beschafften Flinten unterschiedlicher Bauart hat die ukrainische Seite zwei russische Waffen als primären Typ in der Drohnenabwehr identifiziert, welche immer mehr in der Fläche verfügbar werden. Als Erstes ist die halbautomatische Flinte Vepr-12 zu nennen, welche in ihrer Handhabung weitestgehend der AK-74 entspricht und dementsprechend mit geringem Ausbildungsaufwand eingeführt werden konnte. Die kompakte Waffe mit einer Rohrlänge von 51 cm kann aus einem Kastenmagazin mit einer Kapazität von 5, 6 oder 10 Patronen mit vergleichsweiser hoher Kadenz gegen Drohnen eingesetzt werden. Eine zunehmende Verbreitung erlebt auch die von Kalaschnikow entwickelte und ursprünglich auf einer zivilen Jagdflinte basierenden MP-155. Die Vorstellung der auf die Drohnenabwehr optimierten Version erfolgte im August 2024. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Nutzung der 12/89 Patrone, um die benötigte Reichweite zu erreichen. Die ukrainische Analyse behandelt auch kurz die vom russischen Unternehmen Ingra produzierten „Rosyanka“-Adapter, die standardmäßige russische 40-mm-GP-25-Granatwerfer in einschüssige Kaliber-12-Schrotflinten verwandeln können und auch selbstgebaute, bzw. improvisierte Waffen zum Verschuss von Flintenmunition, ohne jedoch auf deren Verbreitung und Effizienz einzugehen. Kurz wird auch auf die Versuche mit Selbstladeflinten auf ferngelenkten Waffenstationen eingegangen. Diese seien den ukrainischen Analysten zufolge jedoch nicht agil genug, um UAS im Nahbereich effektiv bekämpfen zu können.
In Bezug auf die Munition untersuchen die Autoren des Bulletins zwei verschiedenen Sorten und stützen sich dabei teilweise auf bekanntgewordene Dokumente von Versuchen der russischen Seite. Dabei handelt es sich um Spezial-Munition des russischen Herstellers Techkrim. Anstelle von Schrotkugeln verschießt diese Patrone ein mit Gewichten versehenes Netz, das sich nach dem Abfeuern ausbreitet und die Propeller und Rotoren der Drohne verfangen soll.
Als Material für die Netze kommt hochfestes Aramid zum Einsatz. Die Gefahrenzone dieser Munition ist noch geringer als im Falle regulärer Schrotpatronen. Die russischen Versuche zeigen, dass sich das Netz im Laufe der Flugbahn öffnet und bei 30 m Distanz zum Schützen die optimale Entfaltung erreicht. Danach kann es durch Rotation zu einer Verkleinerung der Netzabdeckung kommen. Als maximale Wirkdistanz wird entgegen den 100 m, die der Hersteller angibt, eine Distanz von 75 m angegeben.
Entgegen manchen westlichen Trends setzt die russische Seite bei der Nutzung von Schrot auf eine recht kleine Postengröße. Demnach ist eine Postengröße von 3,5 mm und eine Mündungsgeschwindigkeit von 500 m/s bei einer Ladungsgröße von 40 bis 45 g ideal. Dies würde eine Schrotgarbe von 150 bis 170 Kugeln erzeugen, welche eine maximale effektive Reichweite von 50 bis 75 m ermöglichen würde. Der Kalaschnikow-Konzern hatte zudem erst Ende Oktober eine speziell für die Drohnenabwehr optimierte Schrotpatrone angekündigt, dessen Erprobung bereits laufen soll, vermutlich auch an der Front.
Schlussfolgerung
Die Analyse betont die Bedeutung, den die russische Seite der Ausbildung der Schützen zur Drohnenabwehr beimisst. Demnach wird in realitätsnahe Trainingszentren investiert, welche sich zuweilen in Frontnähe befinden sollen. Zivile Schießausbilder aus dem sportlichen Flintenschießen werden zudem herangezogen, um die Ausbildung zu verbessern. Die fortgeschrittene Ausbildung erfolge in vollständiger persönlicher Ausrüstung und unter simulierten Gefechtsbedingungen. Als Ziele dienen zuerst Tontauben und später teilweise auch günstige Kleinstdrohnen. Auch die Abwehr im Verbund mit Handwaffen anderer Typen, wie Sturmgewehren werde intensiv geübt.
Den Autoren zufolge zeigt die Etablierung einer speziellen Ausbildung und die Entwicklung von angepasster Munition, dass die russische Seite die Abwehr von Drohnen ernst nehme und die nötige Adaptionsfähigkeit besitze, um auf die Bedrohung zu reagieren. Diese umfasse sämtliche Bereiche von der Organisation über die Bereitstellung von geeigneter Infrastruktur bis hin zum Material. Mit der Nutzung der Flinte, eingebettet in einen Mikrokosmos aus Detektion und Mittel des elektronischen Kampfes, verfügen die russischen Streitkräfte nach Einschätzung des ukrainischen Spezialkräftekommandos über eine kostengünstige Antwort auf die aktuelle Bedrohung durch Kleinstdrohnen im Nahbereich.
Kristóf Nagy