In den letzten Wochen wurde das Thema der europäischen Raketenproduktion ausführlich behandelt, wobei der Schwerpunkt auf den Schwachstellen der europäischen Raketenindustrie lag. Hier liegt vermutlich einer der wesentlichen Bereiche der Rüstungspolitik, wenn nicht sogar der entscheidende Bereich, in dem die europäischen Entscheidungsträger es versäumt haben, die notwendigen Schritte zu unternehmen.
Das Problem: es fehlt noch immer an genügend politischem Willen, um die klaffenden Lücken europäischer Streitkräfte im Bereich der Raketen- und Flugkörperbewaffnung schnell schließen zu können.
Die Raketenlücke
In den späten 1950er Jahren entstand der weit verbreitete Glaube an eine „Raketenlücke“, der die Befürchtung widerspiegelte, dass die Sowjetunion die Vereinigten Staaten in der Zahl der ballistischen Raketen überholt hatte und dadurch ein strategisches Ungleichgewicht entstand.
Diese Auffassung wurde durch sowjetische Propaganda, Fehlinterpretationen nachrichtendienstlicher Erkenntnisse und innenpolitische Faktoren in den Vereinigten Staaten genährt. Spätere Erkenntnisse – insbesondere aus Überflügen von U-2-Höhenaufklärungsflugzeugen – zeigten jedoch, dass der Abstand weitgehend illusorisch war. Es stellte sich heraus, dass das sowjetische Raketenarsenal wesentlich kleiner war als befürchtet.
Heute scheint sich die Situation umzukehren. Die wesentlichen Fakten sind bekannt: Russland produziert eine außerordentliche Anzahl von Raketensystemen, setzt sie fast täglich in der Ukraine ein – oft nur, um die Zivilbevölkerung zu terrorisieren – und legt in seinen militärischen Planungen enormes Gewicht auf Raketen und Flugkörpersysteme.
Doch diese Realität hat uns nicht zu sinnvollen Maßnahmen veranlasst. Europa stellt weder die wichtigsten Langstreckenwaffen in nennenswerter Zahl her, noch hat es begonnen, sich ernsthaft mit den doktrinären Implikationen eines Krieges zu befassen, der von solchen Waffen geprägt ist (ja, einige Länder mehr als andere, aber der allgemeine Punkt bleibt). Anders als während des Kalten Krieges, als die US-Entscheidungsträger auf der Grundlage eines Mythos handelten, existiert die Raketenlücke heute – und Europa entscheidet sich einfach, sie zu ignorieren.
Russisches Raketen-, Flugkörper- und Drohnenarsenal
Der ukrainische Geheimdienst schätzt, dass Russland jährlich etwa 1.200 Marschflugkörper für Landangriffe, 400 ballistische Kurz- und Mittelstreckenraketen und 6.000 Shahed-Langstreckendrohnen produziert und plant, jährlich weitere 10.000 Täuschungsdrohnen einzusetzen, um die ukrainische (und europäische) Luft- und Raketenabwehr sättigen zu können.
Russland bemüht sich aktiv darum, diese Zahlen zu erhöhen. Dies ist eine Herausforderung, da seine Produktionsanlagen bereits auf voller Last fahren. Eine weitere Steigerung würde bedeuten, dass finanzielle Investitionen, Ressourcen und Arbeitskräfte in den Flugkörpersektor umgeleitet werden müssten – wahrscheinlich auf Kosten anderer Branchen. Dennoch ist ein zusätzlicher Anstieg der Raketenproduktion in den kommenden Monaten und Jahren nicht auszuschließen.
Nach dem, was aus öffentlich zugänglichen Quellen zu erfahren ist, setzt Russland in der Ukraine nicht sein gesamtes Arsenal ein. Im Gegenteil, ein erheblicher Teil der neu produzierten Waffen scheint im vergangenen Jahr eingelagert worden zu sein. Diese Bestände wurden nicht, wie von vielen Analysten (den Autor eingeschlossen) erwartet, über den Winter eingesetzt, um die Ukraine noch stärker unter Druck zu setzen, indem die Elektrizitätsinfrastruktur des Landes in der anfälligsten Zeit angegriffen wurde.
Dies lässt die Schlussfolgerung zu: Russland bevorratet Raketen- und Flugkörpersysteme für andere Eventualitäten, einschließlich einer möglichen Konfrontation zwischen der NATO und Russland in Europa.
Kurz aber intensiv
Oft wird davon ausgegangen, dass ein Krieg zwischen der NATO und Russland dem Konflikt, der sich derzeit in der Ukraine abspielt, ähneln würde, nur in einem größeren Ausmaß. Dies ist jedoch unwahrscheinlich.
Russland ist sich seit Jahrzehnten darüber im Klaren, dass es sich in einem langwierigen, zermürbenden konventionellen Krieg gegen die NATO nicht durchsetzen kann. Dies gilt unabhängig davon, ob sich die Vereinigten Staaten dem Kampf in Europa anschließen. Der Grund dafür ist ganz einfach: Russland ist den europäischen Staaten in wirtschaftlicher und industrieller Hinsicht weit unterlegen, so dass es nicht über die für einen langfristigen Konflikt erforderlichen Kapazitäten zur Kriegsführung verfügt. Auch wenn russische Propagandisten etwas anderes behaupten, sind sich die russischen Militärstrategen dessen sehr wohl bewusst.
Die russischen Planungen, die sich in öffentlich zugänglichen Strategiedokumenten und einschlägigen Veröffentlichungen widerspiegeln, stellen daher eine kurze, aber intensive Kampagne in den Vordergrund, die darauf abzielt, die NATO zur Unterwerfung zu zwingen – nicht, indem man sie kampfunfähig macht, sondern indem man sie davon überzeugt, dass weiterer Widerstand zwecklos ist und nur die Kosten in die Höhe treiben würde.
Raketenangriffe – insbesondere in der Anfangsphase – spielen in der russischen Strategie eine zentrale Rolle. Im Falle einer Konfrontation mit der NATO würde Russland wahrscheinlich mehrere aufeinander folgende Raketensalven abfeuern, vielleicht zunächst kleinere, die sich dann aber rasch steigern, um deutlich zu machen, dass jeder weitere Widerstand zwecklos ist und das Leid nur noch vergrößern würde.
Gegenwärtig scheinen die europäischen NATO-Staaten dieser Strategie fast ausschließlich mit einer Raketen- und Flugkörperabwehr zu begegnen. Das ist jedoch ein aussichtsloser Ansatz. Wenn das Ziel darin besteht, jede ankommende Rakete abzufangen, dann ist das derzeitige Tempo der Abfangraketenproduktion und -beschaffung völlig unzureichend. Um dieses Ziel zu erreichen, müssten Unternehmen wie Diehl Defence und MBDA rund um die Uhr arbeiten und in drei Schichten IRIS-T SLM- und Aster-Boden-Luft-Raketen produzieren, während gleichzeitig weit mehr Patriot- und NASAMS-Flugkörper beschafft würden als heute – weit mehr.
In Anbetracht der Vielzahl von Beschaffungsprioritäten, mit denen Europa bereits konfrontiert sind, erscheint dies nicht machbar, selbst wenn der politische Wille vorhanden wäre, sich voll und ganz für die Raketen- und Flugkörperabwehr einzusetzen.
Der Sieg im Raketenkrieg
Um mit Russland im Raketen- und Flugkörpersektor wirksam konkurrieren zu können, sind defensive Abwehrfähigkeiten erforderlich – aber auch eine glaubwürdige Gegenschlagskapazität. Nach den Erfahrungen mit der Ukraine muss Europa in der Lage sein, nach Beginn der Feindseligkeiten rasch eine Strategie der Kostenauferlegung umzusetzen, die auf kritische russische Infrastrukturen abzielt, um es den russischen Entscheidungsträgern unmöglich zu machen, die Kosten des Krieges zu rechtfertigen.
Das bedeutet nicht, dass Europa im Kriegsfall rücksichtslos Langstreckenwaffen gegen strategische russische Ziele einsetzen sollte. Es bedeutet jedoch, dass sich Europa die Option dazu offen halten muss – entweder als symmetrische Antwort auf russische Angriffe auf seine eigene kritische Infrastruktur oder als asymmetrisches Eskalationsinstrument, falls dies für notwendig erachtet wird.
Um Russland effektiv abzuschrecken, sind umfangreiche Raketen- und Flugkörperarsenale daher unerlässlich. Die Tatsache, dass Europas kombinierte Produktion von Marschflugkörpern für Landangriffe wahrscheinlich kaum 100 Stück pro Jahr erreicht, während die Produktion von ballistischen Flugkörpern bei Null liegt, stellt fast schon einen Fall krimineller Vernachlässigung dar.
Autor: Fabian Hoffmann ist Doktorand am Oslo Nuclear Project an der Universität Oslo. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Verteidigungspolitik, Flugkörpertechnologie und Nuklearstrategie. Der Beitrag erschien erstmalig am 13.04.2025 in englischer Sprache im „Missile Matters“ Newsletter auf Substack.