Der Krieg in der Ukraine und die massiven russischen Raketenangriffe auf die zivile Infrastruktur des Landes zeigen eindrücklich die Wichtigkeit einer leistungsfähigen Luftverteidigung. Damit diese funktionieren kann, ist jedoch eine ausreichende Zahl von eigenen Abfangraketen erforderlich, um nicht vom Gegner „übersättigt“ zu werden. Diese Lehre ziehen offenbar auch viele Nutzerstaaten des in der westlichen Welt dominierenden Luftverteidigungssystems Patriot und denken über die Beschaffung zusätzlicher Abfangflugkörper nach.
Um die sich abzeichnende Nachfrage in den kommenden Jahren zu bedienen, will Patriot-Hersteller Raytheon Missiles & Defense seine Produktionskapazitäten ausbauen und dabei eng mit dem deutschen Flugkörperspezialisten MBDA zusammenarbeiten. Beide Unternehmen haben einen „strategischen Fahrplan“ für die Produktion von Patriot-Abfangflugkörpern in Deutschland entwickelt, wie Jürgen Koneczny, Geschäftsführer von COMLOG, einem 50:50-Joint-Venture von MBDA und Raytheon, im Gespräch erläutert. Dabei könnten die benötigten Fertigungskapazitäten bei COMLOG aufgebaut werden. Denn das Gemeinschaftsunternehmen im bayerischen Schrobenhausen warte, repariere und modernisiere schon heute in Europa genutzte Patriot-Flugkörper des Typs PAC-2, sagt der Manager. „Dazu können unter anderem mit den MBDA-Tochterunternehmen Bayern-Chemie und TDW weitere Partner in den strategischen Fahrplan eingebunden werden. Die Bayern-Chemie ist eines der führenden Unternehmen bei Raketenantrieben und TDW bei Gefechtsköpfen.“
COMLOG biete „eine hervorragende Ausgangsbasis“, um dort schnell eine neue Produktionsanlage zu errichten, unterstreicht auch Douglas B. Stevenson, Director International Requirements & Capabilities bei Raytheon Missiles & Defense. Seinen Worten zufolge geht es um die Endmontage der modernsten PAC-2-Variante, der GEM-T.
„Für uns wird es also eine neue internationale Expansion in Bezug auf GEM-T und das Patriot-System sein, da wir die gesamte Endmontage des Flugkörpers in Europa für die europäischen Partner durchführen werden. Wir glauben, dass dies durch die bestehende Infrastruktur und die Fähigkeiten von COMLOG, die Lizenzierung, die Lieferkette und die qualifizierten Arbeitskräfte möglich ist.“ Auch die
US-Regierung sei mit den Fähigkeiten und der Erfahrung von COMLOG sehr vertraut, sagt Stevenson. „Wir gehen davon aus, dass sie unseren Vorschlag voll unterstützen.“ Das Vorhaben sei der logische Weg, um der wachsenden Nachfrage in Europa gerecht zu werden.
Produktionsrate für GEM-T würde verdoppelt
„Mit dem Projekt in Deutschland werden wir unsere Produktionsrate für GEM-T-Raketen weltweit verdoppeln,“ sagt der Raytheon-Manager. Ziel sei es, die Kapazitäten in den USA nicht zu ersetzen, sondern zu erweitern, um die Produktion für die internationale Gemeinschaft steigern zu können. Das ist nicht völlig neu, denn bis in die 90er Jahre wurden bereits einmal Patriot-Motoren in Deutschland endmontiert. Die Produktion wurde allerdings nach Abarbeitung aller Aufträge dann eingestellt.
Raytheon-Manager Stevenson würde bei einer erfolgreichen Umsetzung des Vorhabens der Bayern-Chemie aus Aschau am Inn die Fertigung von Raketenmotoren übertragen. „Das wäre eine Erneuerung der Fähigkeiten und Kapazitäten, die die Bayern-Chemie bereits in der Vergangenheit hatte“, erläutert er. Raytheon würde sogar noch weiter gehen und der MBDA-Tochter die Produktion der gesamten Antriebssektion anvertrauen. Stevenson: „Damit wird eine wichtige Unterkomponente des Flugkörpers in Deutschland hergestellt.“ Außerdem könnte TDW perspektivisch den Gefechtskopf fertigen. Stevenson schätzt, dass es drei bis vier Jahre dauern würde, um den gesamten Fertigungsprozess zu qualifizieren und die Zulieferstrukturen für den Raketenmotor zu etablieren.
Für COMLOG-Geschäftsführer Koneczny stellt es dabei eine Herausforderung dar, das geeignete Personal zu finden. „Die Zeit für die die Qualifikation werden wir nutzen, um bis zur Serienproduktion die richtigen Leute an Bord holen.“
Dem strategischen Fahrplan von Raytheon und MBDA zufolge würde die Abwicklung der Aufträge über die NATO Support and Procurement Agency (NSPA) erfolgen, über die bislang auch die Wartung von Patriot-Effektoren gemanagt wird. Über diese Agentur würden dann die europäischen Staaten ihre GEM-T-Flugkörper beschaffen. „Deutschland könnte dabei als Anker-Auftragnehmer fungieren“, sagt Koneczny und dabei die European Sky Shield Initiative (ESSI) nutzen, die von Berlin ins Leben gerufen wurde.
Die bislang 15 in der ESSI zusammengeschlossenen Länder, die Mitte Oktober ein entsprechendes Abkommen unterzeichnet haben, wollen sich daran machen, die Lücken in Sachen Luftverteidigung in Europa zu schließen. Nach Vorstellungen des BMVg sollen die Partnerländer die dafür notwendigen Abwehrsysteme gemeinsam beschaffen, nutzen und warten. Das spart Kosten und schafft Synergien.
Nach Angaben des Verteidigungsministeriums beabsichtigen die Nationen beispielsweise, gemeinsam das in Deutschland entwickelte Luftverteidigungssystem IRIS-T SLM oder zusätzliche Lenkflugkörper für das Flugabwehrsystem Patriot zu kaufen.
Deutschland als Anker-Kunde
Deutschland als Anker-Kunde dürfte erforderlich sein, um eine hinreichend große Abnahme von Flugkörpern sicherzustellen, damit sich die Investition in eine neue Fertigungslinie in Bayern lohnt. Denn letztendlich muss sich das Projekt auch betriebswirtschaftlich rechnen. Beobachter vermuten, dass die erforderliche Mindestproduktionsmenge im oberen dreistelligen Bereich liegen dürfte. Da Deutschland nach Vorstellungen der Bundesregierung in Sachen Luftverteidigung eine Führungsrolle in Europa einnehmen soll, kein abwegiger Gedanke.
Schon in Zeiten des Kalten Krieges hatte die Bundeswehr einen Schwerpunkt auf Luftverteidigung gelegt. So betrieb die Luftwaffe seinerzeit 36 Patriot-Batterien, dazu nochmal genauso viele Hawk-Staffeln plus rund ein Dutzend Roland-Einheiten. Dieses imposante Portfolio ist mittlerweile auf nur noch 12 Patriot-Feuereinheiten zusammengeschrumpft. Auch der Bestand an Abfangraketen des Typs PAC-2 in den Munitionsbunkern der Luftwaffe soll sich nur noch auf einige Hundert Exemplare beschränken. Da die Variante PAC-2 nicht mehr dem Stand der Technik entspricht, besteht hier zusätzlicher Verbesserungsbedarf. So werden neue Mitglieder im europäischen Patriot-Club, wie Schweden oder die Schweiz, die Version GEM-T erhalten. Bislang hat Deutschland dagegen nur für eine begrenzte Anzahl von PAC-2-Flugkörpern ein Upgrade zur GEM-T-Konfiguration beauftragt, wie Koneczny erläutert.
Nach Angaben von Raytheon verfügt der GEM-T-Flugkörper über verbesserte Fähigkeiten gegenüber dem PAC-2 zur Bekämpfung taktischer ballistischer Flugkörper, Marschflugkörpern oder Flugzeugen als Ergänzung zum PAC-3-Flugkörper, der von Lockheed Martin hergestellt wird.
Sollten Raytheon und MBDA mit ihrem strategischen Fahrplan auf Interesse bei den europäischen Patriot-Nutzern stoßen und es zu einer Umsetzung kommen, lägen die Vorteile auf der Hand: Ein Teil der Wertschöpfung würde in Europa verbleiben. Gleichzeitig entstünden hierzulande Fertigungskapazitäten und Know-how, was die Abhängigkeit vom Ausland ein Stück weit reduzieren und die industrielle Resilienz – auch für andere Produkte – erhöhen würde. Was passiert, wenn ein Land über keine nennenswerten Rüstungskapazitäten mehr verfügt, lässt sich gerade in der Ukraine beobachten.
Patriot bis 2048 im Dienst
Fachkreisen zufolge können die im Bestand der Bundeswehr befindlichen Patriot-Raketen nach über 40 Jahren im Betrieb nicht mehr in der Nutzung verlängert werden und müssten in der kommenden Dekade ausgemustert werden. Dabei will die Luftwaffe das System Patriot nach gegenwärtigen Planungen bis zum Jahr 2048 betreiben, wie es von Insidern heißt. Hier scheint also Bedarf für Ersatz zu bestehen. Außerdem dürfte zu einem späteren Zeitpunkt womöglich auch das neue Patriot-Radar mit der Bezeichnung LTAMDS beschafft werden, das ebenfalls von Raytheon hergestellt wird. Nach Aussage von Stevenson sind sowohl der GEM-T- als auch der PAC-3 MSE-Flugkörper kompatibel mit LTAMDS.
Nicht auszuschließen ist überdies, dass in Europa noch weitere Patriot-Nutzer hinzukommen. So hat die Slowakei ihre Boden-Luft-Raketen bekanntlich der Ukraine übergeben und wird gegenwärtig durch andere NATO-Partner wie Deutschland geschützt.
Bis es zu einer Produktionsentscheidung in Deutschland kommt, müssen die politisch und militärisch Verantwortlichen jedoch konkrete Beschaffungspläne aufstellen. Wobei klar ist, dass die bodengebundene Luftverteidigung nicht das einzige Vorhaben mit hoher Priorität für die Bundeswehr ist. Allerdings hat Berlin mit der Lancierung von ESSI eine gewisse Erwartungshaltung bei den anderen Partnernationen erzeugt. Überdies ist das Thema Munitionsmangel bei der Bundeswehr mittlerweile in der breiten Öffentlichkeit angekommen, wie die Berichterstattung über den jüngsten „Munitionsgipfel“ im Kanzleramt belegt.
lah/30.11.2022