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Nuklearstrategie – die Kunst Risiken des Atomwaffeneinsatzes zu bewerten

Fabian Hoffmann

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Wie werden nukleare Risiken bewertet? Die gängige Methode im öffentlichen Diskurs – und auch bei den Entscheidungsträgern – besteht darin, das Risiko zu quantifizieren, indem man eine bestimmte prozentuale Wahrscheinlichkeit für den Einsatz von Atomwaffen bestimmt.

Auch die scheidende US-Regierung scheint diesen Ansatz bevorzugt zu haben. So wurde im März 2024 berichtet, dass die Biden-Administration das Risiko eines Nuklearwaffeneinsatzes während der Charkiw-Offensive im Herbst 2022 mit 50 Prozent bezifferte. Kürzlich betonte Außenminister Blinken auf die Frage nach der Ernsthaftigkeit von Putins nuklearem Säbelrasseln, dass selbst eine Verschiebung des Risikos eines nuklearen Einsatzes von fünf auf 15 Prozent eine erhebliche Steigerung darstellt.

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In den nachfolgenden Abschnitten wird erläutert, warum solche Einschätzungen grundlegend fehlerhaft sind. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass sich diese Kritik nicht auf die Prozentzahlen selbst bezieht (mit denen der Autor ohnehin nicht einverstanden ist), sondern auf die Methodik, die diesen Einschätzungen zugrunde liegt.

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Die Zuweisung grober Prozentsätze für die Wahrscheinlichkeit des Einsatzes von Atomwaffen berücksichtigt nicht die methodischen Beschränkungen, die mit Diskussionen über die Nuklearstrategie einhergehen. In Anbetracht der Tatsache, dass diese Zahlen instrumentalisiert wurden und werden, um die Verweigerung lebenswichtiger Hilfe für die Ukraine zu rechtfertigen, geht diese Frage über eine akademische Debatte hinaus.

Forschungsansätze zum Nuklearwaffengebrauch

Im akademischen Sprachgebrauch wird die Nutzung von Kernwaffen als „binäre“ Variable bezeichnet. Das bedeutet, dass die Variable nur einen Wert von 0 oder 1 annehmen kann, ohne Abstufungen dazwischen. Man kann Atomwaffen nicht „ein wenig“ oder „zu 50 Prozent“ einsetzen; entweder sie werden eingesetzt oder nicht.

Bei der Untersuchung der Wahrscheinlichkeit des Einsatzes von Atomwaffen stellt letztere die „abhängige“ Variable dar, d. h. das Phänomen, das wir zu erklären versuchen. Ob diese abhängige Variable den Wert 0 oder 1 („Kein Einsatz“ oder „Einsatz“) annimmt, hängt von einer Reihe von „Input“-Variablen ab, die manchmal auch als „erklärende“ oder „unabhängige“ Variablen bezeichnet werden.

Im Falle Russlands und der Ukraine könnten diese Inputvariablen Faktoren wie die Lage auf dem Gefechtsfeld, das Ausmaß der Hilfe von außen für die Ukraine, die Stabilität des russischen Regimes, die innenpolitische ukrainische Unterstützung für die Kriegsanstrengungen, die wirtschaftliche Lage Russlands und vieles mehr umfassen. Die Idee ist, dass diese Inputvariablen, wenn sie bestimmte Werte annehmen, uns helfen können, mit Hilfe geeigneter statistischer Instrumente die Wahrscheinlichkeit vorherzusagen, dass die abhängige Variable (Einsatz von Atomwaffen) einen Wert von 0 oder 1 (kein Einsatz oder Einsatz) annimmt.

Dieser Ansatz liegt den Forschungsdesigns zugrunde, die sogenannte „logistische Regressionsmodelle“ verwenden. Diese statistischen Modelle verwenden eine Reihe von Inputvariablen, um statistisch signifikante Vorhersagen über den Wert der abhängigen Variable zu machen (oder zu versuchen, sie zu machen), wenn die Werte der Inputvariablen variieren.

Eine wichtige, aber umstrittene Studie im Bereich der Nuklearstrategie geht beispielsweise davon aus, dass die nukleare Überlegenheit (d. h. der Besitz von mehr nuklearen Sprengköpfen als der Gegner) die Wahrscheinlichkeit eines Staates, eine nukleare Krise zu gewinnen, signifikant vorhersagt, und zwar selbst innerhalb von Konfliktdyaden, die durch gegenseitig zugesicherte Zerstörung (Mutually Assured Destruction – MAD) gekennzeichnet sind. Die nachstehende Grafik von Matthew Kroenig (2013) veranschaulicht diese Beziehung: Mit zunehmender nuklearer Überlegenheit steigt auch die Wahrscheinlichkeit, die nukleare Krise zu gewinnen.

Bedingte Auswirkung des Grades der nuklearen Überlegenheit (x-Achse) auf die Wahrscheinlichkeit eines Sieges (y-Achse) in einer nuklearen Krise, 1941 bis 2021. (Grafik: Matthew Kroenig)

Das Vertrauen, das wir in solche Modelle setzen können, hängt weitgehend von der Relevanz der in das Modell einbezogenen Variablen und der Anzahl der verfügbaren Beobachtungen ab. Im Idealfall wollen wir Tausende von Beobachtungen einbeziehen, aber mit geeigneten statistischen Instrumenten können manchmal auch aus weit weniger Beobachtungen Schlussfolgerungen gezogen werden, obwohl dies unser Vertrauen in die Ergebnisse verringern würde.

Was bedeutet dies für die Vorhersage der Wahrscheinlichkeit eines Nuklearwaffeneinsatzes in der Ukraine? Theoretisch könnte man ein logistisches Regressionsmodell erstellen, um die Wahrscheinlichkeit eines nuklearen Einsatzes zu berechnen, indem man relevante Inputvariablen einbezieht und einen Datensatz erstellt.

Leider ist dies in der Praxis nicht durchführbar, vor allem weil die erforderliche Anzahl von Beobachtungen für die Erstellung eines großen Datensatzes nicht vorhanden ist.[1] Atomwaffen wurden nur zweimal eingesetzt, und zwar unter sehr spezifischen Umständen im Jahr 1945, was bei weitem nicht ausreicht, um einen Datensatz zu erstellen, der statistisch signifikante Schlussfolgerungen zulässt. Daher können wir mit statistischen Mitteln nicht mit Sicherheit vorhersagen, wann Atomwaffen eingesetzt werden würden.

Der Einsatz von Atomwaffen ist kein zufälliges Ereignis

Die obigen Überlegungen verdeutlichen auch, warum die im öffentlichen Diskurs – und selbst bei Entscheidungsträgern – häufig anzutreffenden Vorhersagen über die Wahrscheinlichkeit des Einsatzes von Kernwaffen in der Regel keine gültige Analyse darstellen.

Die Aussage, dass die Wahrscheinlichkeit eines Nukleareinsatzes bei 50 Prozent liegt, wie die Biden-Administration angeblich während der Charkiw-Offensive einschätzte, impliziert, dass es in einem von zwei Fällen zu einem Nukleareinsatz kommen würde, wenn alle anderen Faktoren gleich wären. Mit anderen Worten: Wenn wir die Charkiw-Offensive als „Experiment“ unter identischen Bedingungen wiederholen könnten, würden wir statistisch gesehen erwarten, dass in der Hälfte der Wiederholungen Kernwaffen eingesetzt werden.

Der Einsatz von Atomwaffen ist jedoch kein zufälliges Ereignis. Er folgt nicht der gleichen Logik wie das Ziehen von schwarzen und weißen Murmeln aus einem Beutel mit vorgegebenen Wahrscheinlichkeiten.

Der Wert der abhängigen Variable – der Einsatz von Atomwaffen – hängt vollständig von den Werten der Inputvariablen ab. Das bedeutet, dass, wenn wir in der Zeit zurückgehen und die Charkiw-Offensive unter genau denselben Bedingungen (d. h. ohne Änderung der Inputvariablen) mehrfach wiederholen könnten, die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist, dass wir jedes Mal dasselbe Ergebnis sehen würden, solange die Werte der Inputvariablen konstant bleiben.

Die Annahme, dass die Wahrscheinlichkeit eines Nukleareinsatzes bei fünf, 15 oder 50 Prozent liegt, kann daher nicht nur die nuklearen Risiken übertreiben, sondern auch keine gültigen Rückschlüsse auf die Durchführung einer Nuklearstrategie zulassen.

Deduktive Schlussfolgerung

Lassen sich angesichts der obigen Ausführungen gültige Rückschlüsse auf die Wahrscheinlichkeit eines nuklearen Einsatzes ziehen? Ja, aber es ist wichtig, ihre Grenzen zu erkennen.

Die wichtigste Methode ist die so genannte „deduktive Schlussfolgerung“, die sich nicht auf große n-Datensätze oder vergleichende Fallstudien stützt (da nicht genügend Daten vorhanden sind). Stattdessen wird logisches Denken eingesetzt, um aus allgemeinen Prinzipien oder etablierten Fakten spezifische Schlussfolgerungen zu ziehen.

Aus früheren Episoden intensiver nuklearer Krisen – wie der Kuba-Krise im Jahr 1962 oder dem Grenzkonflikt zwischen China und der Sowjetunion im Jahr 1969 – geht beispielsweise hervor, dass die Staatsführer, die letztlich die Verantwortung für den Einsatz von Atomwaffen tragen, aus Furcht vor politischen und militärischen Konsequenzen sehr zögerlich sind, selbst wenn sich nukleare Krisen extrem zuspitzen. Gleichzeitig lässt sich logisch ableiten, dass der Einsatz von Atomwaffen wahrscheinlicher wird, wenn ein nuklear bewaffneter Staat mit immer ernsteren existenziellen Bedrohungen konfrontiert ist.

Dieses Beispiel zeigt, wie deduktive Schlussfolgerungen, so begrenzt deren Umfang auch sein mag, eine fundierte Analyse der Nuklearstrategie ermöglichen oder zumindest bestimmte Einblicke bieten können. Es verdeutlicht jedoch auch, dass pauschale und quantifizierte Risikobewertungen stehts mit Skepsis betrachtet werden sollten, selbst wenn Entscheidungsträger danach verlangen. Uns fehlen schlichtweg die notwendigen Daten.

Die gleiche Vorsicht gilt für die Öffentlichkeit, wenn sie mit solchen Analysen konfrontiert wird, insbesondere wenn sie zur Unterstützung bestimmter Ziele instrumentalisiert werden.

Autor: Fabian Hoffmann ist Doktorand am Oslo Nuclear Project an der Universität Oslo. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Verteidigungspolitik, Flugkörpertechnologie und Nuklearstrategie. Der Beitrag erschien erstmalig am 12.01.2025 in englischer Sprache im „Missile Matters“ Newsletter auf Substack.


[1] Ein weiteres Problem besteht darin, dass möglicherweise nicht ganz klar ist, welche Inputvariablen relevant sind. Zwar können fundierte Vermutungen über die Faktoren angestellt werden, die den Einsatz oder Nicht-Einsatz von Atomwaffen erklären könnten, doch ist dies ein Thema, das immer wieder Gegenstand wissenschaftlicher Debatten ist.