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Deep Precision Strike – Ist der Tomahawk eine Option für die Bundeswehr?

Lars Hoffmann

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Die Bundeswehr und andere befreundete Streitkräfte in Europa haben im Zuge des Ukrainekrieges festgestellt, dass sie eine riesige Fähigkeitslücke bei Präzisionswaffen großer Reichweite wie etwa ballistischen Raketen oder Marschflugkörpern aufweisen. Insider gehen von notwendigen Reichweiten von mehr als 2.000 Kilometern aus, um Kommandostrukturen, Munitionsdepots oder Luftkriegsmittel tief im rückwärtigem Raum des Gegners anzugreifen.

In der Folge haben sich Deutschland, Frankreich, Italien, Polen, Schweden und Großbritannien auf die Umsetzung des sogenannten European Longe-Range Strike Approach (ELSA) geeinigt, dessen Ziel die Bereitstellung geeigneter nicht-nuklearer Waffensysteme ist. Ob die europäische Industrie jedoch überhaupt noch in dieser Dekade einsatzreife Produkte für den „Deep Strike“ anbieten kann, scheint ungewiss. Zumal offenbar noch keine Beauftragung erfolgt ist.  

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Lediglich MBDA France hat mit dem Marine-Marschflugkörper MdCN ein Angebot im Köcher. Die Waffe müsste allerdings noch für den Boden-Boden-Einsatz angepasst werden, was Jahre in Anspruch nehmen dürfte. Überdies bezweifeln Beobachter, dass der Flugkörper die geforderten Reichweiten abbilden kann.

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Um die Fähigkeitslücke ihrer europäischen Verbündeten kurzfristig zu schließen, hat die Biden-Administration im Sommer vergangenen Jahres angekündigt, ab 2026 weitreichende Waffensysteme vom Typ Tomahawk, SM-6 und eine sich in Entwicklung befindliche Hyperschall-Rakete des Typs Dark Eagle zeitweise in Deutschland zu stationieren. Die periodische Verlegung der im Rahmen einer Multi-Domain Task Force (MDTF) genutzten Waffensysteme nach Deutschland gehe der Planung zur dauerhaften Stationierung in der Zukunft voraus, hieß es seinerzeit in einer gemeinsamen Erklärung der amerikanischen und deutschen Regierung. Die Stationierung wurde unter anderem damit begründet, dass diese Waffen über deutlich größere Reichweiten als die derzeitigen landgestützten Systeme in Europa verfügen.

Die U.S. Army ist gegenwärtig dabei, mehrere sogenannte Multi-Domain Task Forces (MDTF) aufzustellen und auszurüsten. Eine ihrer Hauptaufgaben soll die Bereitstellung weitreichenden Artilleriefeuers auf Basis von Raketen und Marschflugkörpern.

Wenn also die Entwicklung neuer Abschreckungsfähigkeiten in Europa noch viele Jahre benötigen wird, bleibt nur, bestehende Systeme hinsichtlich ihrer Reichweite zu verbessern oder Zwischenlösungen am Markt zu beschaffen.  

Für die Luftwaffe könnte deshalb die Weiterentwicklung des Marschflugkörpers Taurus eine gangbare Option sein. Der Taurus gilt als die beste europäische Luft-Boden-Waffe, die selbst tief verbunkerte Ziele erfolgreich angreifen kann, aber nur eine begrenzte Reichweite von rund 500 Kilometern aufweist. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass im vergangenen Jahr in den Medien darüber berichtet wurde, dass Verteidigungsminister Boris Pistorius die Entwicklung eines „Taurus Neo“ mit verbesserten Fähigkeiten und erhöhter Reichweite anstrebt. Geschehen ist aber seitdem offenbar nichts. Es wurde lediglich ein Vertrag zur Wartung und leichten Modernisierung der bereits im Bestand befindlichen Taurus KEPD-350 geschlossen.

Perspektivisch wird die Luftwaffe eine weitere potente Abstandswaffe erhalten: Mit der Bestellung des Kampfflugzeugs F-35 wurde gleichzeitig ein umfassendes Waffenpaket geordert. Darunter befindet sich auch die AGM-158B/B2 Joint Air-to-Surface Standoff Missiles-Extended Range (JASSM-ER) von Lockheed Martin. Öffentlichen Quellen zufolge soll der vom Flugzeug aus gelaunchte Marschflugkörper eine Reichweite von rund 1.000 Kilometern aufweisen. Auch hier wird es jedoch noch Jahre dauern, bis die F-35-Staffel in Büchel operativ einsatzbereit sein wird.

Ebenso wenig verfügt die Marine über einen zum strategischen Deep Strike befähigten Flugkörper. Der auf den Korvetten eingerüstete RBS-15 und zukünftig die Naval Strike Missile weisen nicht die erforderlichen Reichweiten auf. Und die Entwicklung des norwegisch-deutschen Seezielflugkörpers Super Sonic Strike Missile (3SM) Tyrfing, der womöglich eine vierstellige Reichweite in Kilometern aufweist, steht noch ganz am Anfang. Den bisherigen Planungen zufolge soll der 3SM erst 2035 eingeführt werden.

Dem Vernehmen nach denkt die Bundeswehr überdies daran, eine neue Deep-Precision-Strike-Waffe vom Boden aus zu starten. Ein solches Verfahren würde viele Vorteile mit sich bringen. Denn für den Einsatz eines Boden-Boden-Flugkörpers werden weder Flugplätze für die Trägermittel benötigt, noch ist die Einrüstung in eines der wenigen Schiffe der Marine erforderlich. Ein solches Waffensystem kann relativ einfach versteckt und leicht verlegt werden, was die Entdeckung und Bekämpfung durch den Gegner erschwert.

In diesem Segment ist die Bundeswehr jedoch vollständig „blank“. Es gibt kein System, das weiterentwickelt werden könnte. Um mittelfristig diese Lücke abzudecken, dürfte nur der Kauf eines eingeführten Systems in Frage kommen. Damit richten sich die Augen auf die USA. Denn nur die U.S. Army verfügt mit den erwähnten Tomahawk-Marschflugkörpern für den Bodenstart über marktverfügbare und einsatzerprobte Systeme, die aufgrund ihrer Leistungsparameter in Frage kommen.

Gut informierten Kreisen zufolge wird deshalb auch im Verteidigungsministerium bereits über die Beschaffung von Tomahawks als Übergangslösung bis zur Einführung einer vom Boden aus einzusetzenden europäischen Waffe diskutiert. Wie weit die Überlegungen bereits gediehen sind, ist jedoch nicht bekannt. Das BMVg wollte sich auf Nachfrage nicht zu dem Themenkomplex äußern.

Im Augenblick ist es sehr schwer einzuschätzen, ob es tatsächlich zu einer Beschaffung von Tomahawk-Marschflugkörpern kommen wird. Zumal auf Grund der bevorstehenden Bundestagswahl und der anschließenden Regierungsbildung der Handlungsspielraum des BMVg eingeschränkt sein dürfte. Und dann ist da noch die neue US-Regierung unter Führung von Donald Trump. Wie der amerikanische Präsident auf eine Anfrage aus Deutschland reagieren würde, ist kaum zu prognostizieren.

Grundsätzlich waren die USA in den vergangenen Jahren bereit, den ursprünglich für den Einsatz von Schiffen und U-Booten entwickelten Tomahawk an enge Verbündete zu exportieren. So nutzen bereits die Marinestreitkräfte Großbritanniens und Australiens den Flugkörper. Kanada, Japan und die Niederlande planen ebenfalls eine Einführung in ihre Marinestreitkräfte. Auch für die in der kommenden Dekade zulaufenden deutschen Fregatten der Klasse 127 ist grundsätzlich die Einrüstung von Tomahawks vorgesehen. Eine finale Entscheidung dazu scheint allerdings von Seiten der USA noch nicht getroffen worden zu sein.

Zusammensetzung einer Typhon Feuereinheit der U.S. Army, die Flugkörper vom Typ SM-6 und Tomahawk verschießen kann.
Zusammensetzung einer Typhon Feuereinheit der U.S. Army, die Flugkörper vom Typ SM-6 und Tomahawk verschießen kann. (Bild: U.S. Army)

Die Abmaße der Waffe sind so, dass sie sowohl aus Standard-Torpedorohren oder dem Vertical Launching System Mk 41 von Überwasserschiffen verschossen werden können. Für den Einsatz vom Boden hat Lockheed Martin einen Missile Launcher mit der Bezeichnung MK 70 Mod 1 entwickelt. Er enthält in einem 40-Fuß-Container vier der Zellen des auf Schiffen eingesetzten Mk 41 Vertical Launch System in der größten Variante, der Strike-Version. Das Vertical Launch System wurde ebenfalls von Lockheed Martin entwickelt. Während die US-Landstreitkräfte die Verantwortung für die mit Tomahawks ausgerüsteten Multi-Domain Task Forces haben, muss dies nicht zwangsläufig eine Blaupause für die Bundeswehr sein. Dem Vernehmen nach hat die Luftwaffe denn auch bereits ihre Interesse signalisiert, in Zukunft strategische Boden-Boden-Waffen betreiben zu wollen. Wohl nicht zuletzt auch deshalb, weil sie die Voraussetzungen mitbringt, Ziele in großer Entfernung zu bekämpfen.

Lars Hoffmann