Die deutschen Streitkräfte planen, ihre bodengebundenen Luftverteidigungs- und Flugabwehrkapazitäten in den kommenden Jahren um ein Vielfaches auszubauen. Dafür sollen mehrere hundert Systeme und vermutlich mehrere Tausend Effektoren beschafft werden.
Der Krieg in der Ukraine und die Konflikte im Nahen Osten haben in den letzten drei Jahren gezeigt, dass heute nicht nur technologisch hochentwickelte Staaten über die Fähigkeit zum Raketen-, Flugkörper- und Drohnenbeschuss auf weite Distanzen verfügen. Selbst Milizen – so zeigt es der Blick auf das Rote Meer – sind heute in der Lage, mit solchen Waffen ganze Regionen „zu sperren“ und Menschenleben und Welthandel zu bedrohen. Gleichzeitig zeigt sowohl der Ukraine-Krieg als auch der jüngste Konflikt zwischen dem Iran und Israel, dass Flugabwehrfähigkeiten die eigenen Truppen und die Bevölkerung vor dieser Bedrohung schützen können. Voraussetzung dafür ist neben der technologischen auch die quantitative Verfügbarkeit der Luftverteidigungssysteme, um einen flächendeckenden Raumschutz gewährleisten zu können, auch gegen Saturierungsangriffe. Genau bei dem Punkt Quantität klaffen bei der Bundeswehr riesige Lücken.
Diese Erkenntnis ist nicht neu. Neu ist hingegen der Umstand, dass die erfolgte Grundgesetzänderung, die eine Ausklammerung der Verteidigungsausgaben oberhalb von 1,5 Prozent des Bruttoinlandproduktes aus der Schuldenbremse ermöglicht, den Streitkräften erstmals die Möglichkeit verschafft, das Schließen dieser Lücken effektiv anzugehen.
Bodengebundene Luftverteidigungssysteme
Gut informierten Kreisen zufolge wird der Aufwuchs der bodengebundenen Bundeswehr-Luftverteidigungs- und -Flugabwehrkapazitäten in allen Abfangschichten angestrebt. So besteht offenbar allein in der untersten Abfangschicht über alle Teilstreitkräfte hinweg ein Bedarf für rund 500 bis 600 Flugabwehr-Kanonensysteme vom Typ Skyranger. Bei der Schicht darüber wird ein Bedarf von rund 100 in Entwicklung befindlichen Flugabwehrraketenpanzern mit einer Iris-T-SLS-Bewaffnung kolportiert.
Auch bei der mittleren und höheren Reichweite soll dem Vernehmen nach quantitativ und qualitativ nachgebessert werden. Wie hartpunkt bereits im Mai berichtete, sollen nach den Vorstellungen der Luftwaffe möglichst schnell sechs zusätzliche Luftverteidigungssysteme des Typs Iris-T SLM zu den bereits bestellten sechs Feuereinheiten dazukommen. Gut informierten Kreisen nach liegt der mittel- und langfristige Bedarf noch höher, so dass Bestellungen für weitere Feuereinheiten folgen könnten. Darüber hinaus sieht die Luftwaffe den Bedarf für die Beschaffung des in Entwicklung befindlichen Flugkörpers Iris-T SLX. Laut Hersteller Diehl Defence soll die Iris-T SLX eine größere Reichweite bis 80 km und eine Höhenabdeckung von bis zu 30 km erreichen. Mit dem aktuellen Flugkörper SLM können Ziele öffentlich zugänglichen Angaben des Herstellers zufolge nur bis zu einer Entfernung von 40 km bei einer Höhenabdeckung von 20 km bekämpft werden. Damit dürfte sie mit ihren Leistungsdaten etwas unterhalb der im Patriot-System genutzten Effektoren liegen. Diehl will dem Vernehmen nach bis zum kommenden Jahr ein Starter-System entwickeln, das sowohl die Iris-T SLM als auch die Iris-T SLX verschießen kann. Beobachter gehen davon aus, dass das BMVg bereits in Gesprächen mit Diehl über die mögliche Einführung der Iris-T SLX steht. Ein Beschaffungsvertrag noch im laufenden Jahr scheint nicht vollkommen ausgeschlossen zu sein.
Bereits beauftragt wurde von der Bundeswehr in den USA die Lieferung von acht Feuereinheiten des Luftverteidigungssystems Patriot in der Konfiguration C3+. Bleibt es bei dieser Bestellung, würde die Luftwaffe, die nach der Abgabe von drei Systemen an die Ukraine gegenwärtig über neun Feuereinheiten verfügt, perspektivisch auf 17 Patriot-Systeme zurückgreifen können. Bestellt wurden auch bereits mehrere Hundert Effektoren der Typen GEM-T sowie PAC-3 MSE, wobei allein von ersterer in der zukünftigen Produktionslinie von Raytheon und MBDA in Schrobenhausen 500 für die Bundeswehr produziert werden sollen. Ein Vertrag mit Raytheon für weitere GEM-T soll überdies in Kürze geschlossen werden – eine entsprechende 25-Millionen-Euro-Vorlage befindet sich in Vorbereitung. Dem Vernehmen nach könnten mehrere Hundert Raketen geordert werden. Parallel dazu soll mit der Modernisierung der Patriot-Startgeräte auf die Variante M903 begonnen werden, damit diese auch Flugkörper des Typs PAC-3 MSE verschießen können.
Ein Großer Bedarf besteht auch bei Waffen für den Nahbereich. So wurde in Fachkreisen berichtet, dass Deutschland Interesse an der Beschaffung von 3.000 schultergestützten Flugabwehrraketen des Typs Stinger haben soll. 500 wurden bereits direkt in den USA beim Hersteller Raytheon beauftragt. Darüber hinaus verfolgen offenbar Deutschland und die Niederlande das Ziel, eine Stinger- Produktionslinie in Europa aufzubauen, wobei die US-Behörden dem Vernehmen nach jedoch noch kein grünes Licht für das Projekt gegeben haben.
Schlussendlich sollen auch die Fähigkeiten in der oberen Abfangschicht gestärkt werden. Wie hartpunkt ebenfalls bereits Anfang Mai berichtete, hat sich die Luftwaffe dazu entschieden, dass gegenwärtig in Israel in Entwicklung befindliche Flugkörpersystem Arrow 4 zu beschaffen. Bei Arrow 4 handele es sich um eine Weiterentwicklung des Systems Arrow 2, das das Höhenband oberhalb der Patriot-Systeme in der Übergangsschicht zum Weltraum abdecke. Zusammen mit dem Einsatz von Arrow 3, dessen erste Einheit Ende des Jahres im Nordosten Deutschlands in Dienst gestellt werde, könne die Luftwaffe zukünftig mit der Arrow 4 das gesamte Höhenspektrum abdecken. Ein Vorteil des Arrow-4-Lenkflugkörpers ist, dass dieser mit existierenden Arrow-Radaren und -Abschussgeräten eingesetzt werden kann. Damit handele es sich nach Angaben der Luftwaffe um eine kostengünstige Lösung.
Flugkörper
Gleichzeitig zum Bedarf neuer Luftverteidigungssysteme dürfte auch der Bedarf an Munition und Flugkörpern steigen. Wie hoch der tatsächliche Bedarf bewertet wird, ist eingestuft. Anhand öffentlich bekannter Daten können aber Näherungswerte für einen theoretischen Mindestbedarf ermittelt werden. So führt beispielsweise ein Skyrager 30 im Turm 300 Patronen Air-Burst-Munition im Kaliber 30 x 173 mm als Kampfbeladung mit. Hersteller der Munition und des Waffensystems ist Rheinmetall. Legt man nun ein Bevorratungsziel von 30 Tagen und einem durchschnittlichen Munitionsverbrauch einer Kampfbeladung pro Tag zugrunde, bräuchte die Bundeswehr bei 500 Skyrangern mindesten 4,5 Millionen Patronen. Als Sekundärbewaffnung kommen noch die Drohnenabwehrflugkörper vom Typ DefendAir von MBDA Deutschland dazu. Ein Skyranger soll neun dieser Flugkörper pro Kampfbeladung erhalten. Hier läge der Bedarf dann bei 135.000 DefendAir-Flugkörpern.
Selbst beim Flugabwehrraketenpanzer, dessen Bewaffnung aus mindestens vier Flugkörpern des Typs Iris-T SLS von Diehl Defence bestehen wird, wären bei einer Beschaffung von 100 Panzern 12.000 Iris-T-SLS-Flugkörpern notwendig, um für jeden Panzer mindesten 30 Kampfbeladungen vorhalten zu können. Ähnliche Berechnungen können auch für Iris-T SLM, Patriot und Arrow angestellt werden.
Fazit
Bei den Kalkulationen muss berücksichtigt werden, dass es sich um rein theoretische Werte handelt. Diese beruhen auf der Annahme, dass sowohl der beschriebene Bedarf der Streitkräfte gedeckt wird und die Bundeswehr auch eine Bevorratungsmenge von mindestens 30 Kampfbeladungen beschafft. Selbst wenn diese Annahmen eintreffen, dürften noch mindestens zehn Jahre vergehen, bis sowohl alle Systeme als auch die entsprechende Munition in die Streitkräfte zulaufen kann. Bis dahin muss dann auch entsprechendes Personal – auf welchem Wege auch immer – rekrutiert werden die entsprechende Infrastruktur aufgebaut sein.
Waldemar Geiger und Lars Hoffmann