Seit Jahren zieht sich das Projekt zur Beschaffung eines Taktischen Luftverteidigungssystems (TLVS) für die Bundeswehr nun schon in die Länge. Auch 2019 sind noch keine unterschriftsreifen Verträge zwischen dem BMVg als Auftraggeber und dem Anbieter, der TLVS GmbH, ausverhandelt worden. Insider schließen deshalb aus, dass vor dem Jahreswechsel noch die parlamentarische Behandlung erfolgen kann. Dabei war es eigentlich das erklärte Ziel, 2019 grünes Licht für TLVS vom Bundestag zu erhalten.
Mittlerweile nehmen bei vielen Beobachtern die Zweifel zu, ob das Projekt überhaupt noch umgesetzt werden kann. TLVS stehe „auf der Kippe“, sagte der verteidigungspolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag, Fritz Felgentreu, am Rande einer Sitzung des Verteidigungsausschusses am Mittwoch in Berlin. Felgentreu begründete seine Einschätzung mit den hohen Kosten und den Risiken, die mit dem Vorhaben verbunden seien. Die SPD wünsche weiterhin, einen Abschluss der Vertragsverhandlungen bis Jahresende, so der Politiker. Berichten zufolge könnten sich die Ausgaben für TLVS auf acht bis zehn Mrd EUR summieren.
Wie es aus Parlamentskreisen heißt, muss das Anbieterkonsortium allerdings zunächst ein erneutes Angebot unterbreiten, bevor überhaupt verhandelt werden kann. Trifft dies zu, wäre es das dritte Angebot, zu dem die TLVS GmbH aufgefordert wurde, weil die Anforderungen unerfüllt blieben.
Angebot vom Juni erfüllt nicht die Forderungen
Wie ein Sprecher des Verteidigungsministeriums dazu mitteilte, entspricht das im Juni dieses Jahres vorgelegte zweite Angebot der Bietergemeinschaft TLVS „noch nicht den Vorstellungen des öffentlichen Auftraggebers Bundeswehr“. Daher stehe die Bundeswehr derzeit noch in weiterführenden Gesprächen mit der Industrie und beabsichtige, diese bis Ende des Jahres 2019 abzuschließen.
Zur Erinnerung: Als vor einigen Jahren MBDA noch als alleiniger Hauptauftragnehmer für TLVS fungierte, wurden Angebote als inakzeptabel vom BMVg zurückgegeben. In der Folge drängte das Ministerium darauf, den US-Rüstungskonzern Lockheed Martin als Partner ins Boot zu holen. Man traute MBDA allein die Umsetzung des Multi-Milliarden-Projektes nicht mehr zu, wie es damals aus dem Dunstkreis des Ministeriums hieß. In der Folge wurde das Joint Venture TLVS GmbH zwischen MBDA und Lockheed Martin gegründet, das dort weitermacht, wo MBDA aufgehört hat.
Neben den Kosten – die vermutlich nicht allein der Industrie angelastet werden können, sondern auch auf die hohen Anforderungen des Bundeswehr-Beschaffungsamtes BAAINBw zurückgehen – soll es auch noch offene technische Fragen geben. Bekanntlich wird als Primär-Lenkflugkörper die PAC-3 MSE von Lockheed Martin in TLVS eingebunden. Diese Waffe wurde allerdings nicht im Rahme des trilateralen MEADS-Programms entwickelt, auf deren Ergebnisse Deutschland, Italien und die USA Zugriff haben.
Beobachter gehen deshalb davon aus, dass die Bundeswehr keinen detaillierten Einblick in die Integration der Rakete in das TLVS-Battle-Management-System hat. US-Medien hatten bereits vor geraumer Zeit darüber berichtet, dass die USA das Simulationsmodell für die PAC-3 MSE den deutschen Streitkräften nicht zur Verfügung stellen wollen. Die US-Streitkräfte waren demnach lediglich bereit, eine abgespeckte Version nach Deutschland zu liefern. Auch das Weitbereichsradar für TLVS, das Lockheed Martin zum Teil mit Eigenmitteln entwickelt hat, dürfte dem Zugriff der Bundeswehr entzogen sein.
Black Boxes bleiben bestehen
Treffen diese Annahmen zu, ergäbe sich für die Bundesrepublik eine vergleichbare Situation wie bei Patriot: Wesentliche Elemente des Luftverteidigungssystems sind für den Nutzer nicht einsehbar, was gemeinhin als Black Box bezeichnet wird. Und diese Black Boxes bei Patriot waren schließlich ein Grund, das von Raytheon produzierte Luftverteidigungssystem durch TLVS zu ersetzen. Offenbar hoffte man seinerzeit, bei TLVS vollen Zugriff auf alle Systemkomponenten zu erlangen.
Noch ungeklärt ist offenbar weiterhin, welches Mittelbereichsradar für die Feuerleitung des Zweitflugkörpers Iris-T SL eingesetzt werden soll. Somit dürften die Anbieter Hensoldt, Thales sowie Saab weiterhin im Rennen sein. Die drei wurden bereits im Oktober 2018 zu Angeboten aufgefordert. Dem Vernehmen nach mussten die Anbieter jedoch kürzlich noch Detail-Informationen nachliefern.
Bei der Auswahl des Mittelbereichssensors könnten neben Parametern wie Preis, Risiko und Leistung auch industriepolitische Aspekte eine Rolle spielen, wie Beobachter vermuten. So ist Hensoldt der nationale Champion bei der zur Schlüsseltechnologie erklärten Sensorik. Thales Nederland in Hengelo produziert das für TLVS im Angebot befindliche Multi-Mission-Radar. Vor dem Hintergrund der angestrebten engen Verflechtung der niederländischen und deutschen Streitkräfte könnte Thales demnach ins Feld führen, dass Synergien bei Betrieb und Ausbildung zwischen Luftwaffe und Koninklijke Landmacht zu erwarten sind. Denn das niederländische Heer hat bereits neun MMR fest bestellt.
TLVS GmbH entscheidet über Mittelbereichssensor
Der Sprecher des Verteidigungsministeriums betonte in diesem Zusammenhang jedoch, dass die Auswahl des Mittelbereichssensors allein durch den vorgesehenen Auftragnehmer im Rahmen seiner Rolle als Generalunternehmer erfolge.
„Ziel des Vergabeverfahrens ist es unverändert, einen sachgerechten Vertrag mit klaren Leistungsanforderungen und insbesondere einer fairen Risikoverteilung zu erreichen, um später nicht wie bei früheren Rüstungsprojekten mit Versäumnissen konfrontiert zu sein“, teilte der Sprecher weiter mit.
Sollte es zu keiner fairen Risikoverteilung kommen, dürfte der aktuellen Verteidigungsministerin ein glatter Schnitt leichter fallen als ihrer Vorgängerin. Denn Annegret Kramp-Karrenbauer kann nicht für die Entscheidung verantwortlich gemacht werden, TLVS zu beschaffen.
Vielleicht einigen sich die Anbieter und das BAAINBw aber doch noch wie geplant bis Jahresende. Dann müsste vermutlich an anderer Stelle im Einzelplan 14 gestrichen werden. Denn die Planer des BMVg haben bereits durchblicken lassen, dass bei der gegenwärtig vom Finanzministerium vorgegebenen Budgetlinie, ohnehin nicht alle aus dem Fähigkeitsprofil der Bundeswehr abgeleiteten Rüstungsvorhaben umgesetzt werden können.
lah/24.10.2019