Die deutsche Industrie gehört bei der Entwicklung von Artilleriesystemen weiterhin zu den internationalen Top-Playern. Das machte am Mittwoch Krauss-Maffei Wegmann (KMW) bei einer Vorführung auf dem Truppenübungsplatz Klietz deutlich: Das Unternehmen demonstrierte erstmals vor Publikum den scharfen Schuss eines 155mm-Rad-Haubitzensystems aus der Bewegung. Eingesetzt wurde der Remote Controlled Howitzer 155mm (RCH 155). Dieses Waffensystem kombiniert das von KMW entwickelte Artillery Gun Module (AGM) – dabei handelt es sich um einen vollautomatischen Geschützturm – mit dem Chassis des Radpanzers Boxer.
Bei dem Feuern aus der Fahrt dürfte es sich um eine Weltpremiere gehandelt haben. Zwar hat die finnische Firma Patria den Schuss aus der Bewegung für sein Mörsersystem NEMO bereits nachgewiesen. Bei den deutlich größeren und leistungsfähigeren 155mm-Haubitzensystemen ist eine derartige Fähigkeit bislang jedoch nicht dokumentiert, wie Artillerieexperten der Bundeswehr auf der Veranstaltung bestätigten. Gezeigt wurde am Mittwoch ein Einzelschuss aus der Fahrt. Firmenkreisen zufolge demonstrierte KMW am Donnerstag vor Gästen aus den USA sogar, dass das System aus der Bewegung drei Schüsse kurz hintereinander abgeben kann. Von der Feuerstellung aus wurden nach Angaben des Unternehmen Ziele in etwa neun Kilometern Entfernung mit Geschossen ohne Sprengladung belegt. Dabei wurde auch eine Landstraße überschossen.
Die RCH 155 im Feuerkampf. Deutlich sichtbar ist die Rauchentwicklung. Foto: lah
Darüber hinaus demonstrierte die RCH 155 auch das Verfahren des Multiple Rounds Simultanenous Impact (MRSI) im scharfen Schuss. Dabei werden von einer einzelnen Haubitze kurz hintereinander mehrere Geschosse abgefeuert, die im Ziel jedoch gleichzeitig einschlagen. Dies wird möglich, indem Rohrerhöhungen und Treibladungen der einzelnen Schüsse so berechnet werden, dass durch unterschiedliche Flugzeiten ein simultaner Einschlag im Ziel erreicht wird.
KMW hat die Radhaubitze überdies mit der so genannten Hunter-Killer-Fähigkeit zur Bekämpfung eines Gegners im direkten Richten modifiziert. Dazu wird die Optronik der auf dem System integrierten Fernbedienbaren Waffenstation (FLW 200) genutzt, die bei der Vorführung mit einem MG 5 bestückt war. Bei diesem Verfahren visiert der Kommandant mit der Optik der Waffenstation das Ziel an, worauf die 155mm-Hauptwaffe automatisch nachgeführt wird und ausgelöst werden kann. Auch dieses Prinzip wurde im scharfen Schuss gezeigt.
Die Gäste der Veranstaltung, darunter zahlreiche Offiziere der Bundeswehr, der britischen Armee und Beschaffungsbehörde sowie eine kleine Delegation aus Katar, konnten sich in Klietz einen Eindruck von der Leistungsfähigkeit des Artilleriesystems verschaffen. Die Beobachter zeigten sich dabei zum Teil überrascht, wie wenig Zeit die RCH 155 benötigt, um im konventionellen Verfahren aus der Fahrt zum Stillstand zu kommen, den Feuerkampf aufzunehmen und danach auszuweichen.
Obwohl es sich bei der RCH 155 um ein Radsystem handelt, werden – anders als bei anderen Haubitzen auf LKW-Fahrgestell – keine Stützen ausgefahren. Dies erhöht das Operationstempo deutlich. Auch beim Personal setzt die Radhaubitze Maßstäbe, da nur ein Kraftfahrer und ein Kommandant benötigt werden.
Wie es aus Bundeswehr-Kreisen hieß, besteht das Interesse, in der zweiten Hälfte dieser Dekade neue Radhaubitzen als Ergänzung zur Panzerhaubitze 2000 einzuführen. Und auch die britische Armee will einen Wettbewerb starten, um ihre betagten Systeme des Typs AS 90 zu ersetzen. Da das Land den Radpanzer Boxer beschafft, würde sich womöglich eine Kombination dieser Plattform mit einem Artilleriesystem wie dem AGM anbieten.
KMW zeigte auf dem Truppenübungsplatz östlich von Stendal eine weiterentwickelte Version des schon früher vorgestellten RCH. So war das AGM-Turmmodul in der Höhe gegenüber einer früheren Variante um 30 cm reduziert. Damit weise das Fahrzeug Dimensionen auf, die eine Bahnverladung zulassen, so das Unternehmen. Außerdem verfügte die Radhaubitze über eine Waffenstation, die neben dem direkten Richten mit seinem MG auch zur Verteidigung eingesetzt werden kann. Auf dem Fahrzeug installiert war überdies das Sichtsystem SETAS von Hensoldt. Dies soll der Besatzung einen 360-Grad-Panoramablick bei Tag und Nacht ermöglichen. Laut KMW sind allerdings auch andere Sichtsysteme adaptierbar. Die firmenseitige Qualifikation der Haubitze soll bis Anfang kommenden Jahres abgeschlossen werden.
Der automatische Geschützturm der RCH 155 nimmt 30 Geschosse und 144 Treibladungselemente auf, genau halb so viel wie die Panzerhaubitze 2000. Das Munitionieren dauert laut KMW nur wenige Minuten. Für das Zuführen der Treibladungen verfügt die Haubitze an der rechten Turmseite über eine längliche Klappe. Die Projektile werden über die Heckklappe mit einer Ladevorrichtung ins Magazin transportiert.
Mit einer Kadenz von mehr als acht Schuss pro Minute und den kurzen Vorbereitungszeiten kann die Radhaubitze in deutlich weniger als 180 Sekunden eine erhebliche Feuerwirkung entfalten. Diese drei Minuten gelten mittlerweile als kritischer Zeitraum in dem ein Geschütz maximal wirken kann ohne vom Gegner aufgeklärt und bekämpft zu werden. Da sich vermutlich in Zukunft die Zeitspanne zwischen Detektion und Gegenschlag noch verringern dürfte, wird das Feuern aus der Bewegung aller Voraussicht nach ein entscheidender Faktor sein, um auf dem Gefechtsfeld zu überleben. In der Bewegung ist überdies der Geschossqualm, der bei einer Waffe des Kalibers 155mm erheblich sein kann, nicht auf einen Punkt konzentriert. Damit ist das System schwerer aufklärbar.
Boxer-Chassis den Anforderungen gewachsen
Laut Hersteller stützt man sich bei dem Konzept des AGM auf bewährte Komponenten ab. So wird die gleiche 155mm-Waffe mit 52 Kaliberlängen wie in der Panzerhaubitze 2000 eingesetzt und entsprechende Reichweiten erzielt. Mit dem Boxer-Fahrgestell verfügt das Fahrzeug über eine bereits im harten Einsatz in Afghanistan bewährte Komponente. Dem Unternehmen zufolge wurde der scharfe Schuss in allen Elevationen und Winkeln bis hin zur maximalen Treibladungsbestückung in der Praxis erprobt, ohne dass eine zusätzliche Abstützung erforderlich war. Zum Teil wurde das Fahrzeug dabei selbst geneigt. Das Chassis des Boxers sei in der Lage, selbst im flachen Schuss alle Kräfte zu absorbieren, heißt es. Nach den umfangreichen Tests habe man eine RCH 155 zerlegt und dabei keinerlei Rissbildung im Boxer-Fahrgestell festgestellt.
Das dürfte nicht selbstverständlich sein. So sollte dem Vernehmen nach bei der polnischen Panzerhaubitze Krab ursprünglich das Fahrgestell des Kampfpanzers T-72 genutzt werden. Weil aber nach dem Feuerkampf Risse auftraten und dieses Problem offenbar nicht zu beheben war, entschieden sich die Polen letztendlich, das Fahrgestell der koreanischen Haubitze K9 zu nutzen.
Während ein Radsystem gegenüber einem Raupenantrieb in puncto Geländegängigkeit – etwa bei starken Steigungen – Nachteile mit sich bringt, zeigte die RCH 155 auf dem Truppenübungsplatz, dass sie im Vergleich mit einem Schützenpanzer Puma ein welliges und sandiges Gelände in gleicher Geschwindigkeit und mit weniger „Nicken“ und Geräuschemissionen überwinden kann.
Die Vorteile der hohen Feuerkadenz der Radhaubitze macht KMW an einer Vergleichsrechnung fest: So sind zwölf RCH 155 erforderlich, um eine Fläche von 200 mal 200 Metern in zwölf Kilometern Entfernung binnen 140 Sekunden mit 216 Projektilen zu belegen, wobei das Beziehen der Feuerstellung und das Verlassen jeweils zehn Sekunden dauern und eine Feuergeschwindigkeit von neun Schuss pro Minute angenommen wird. Der Personaleinsatz liegt bei 24 Soldaten.
Dagegen werden für die gleiche Aufgabe laut KMW 24 Panzerhaubitzen des Typs M109 benötigt, die jeweils für das Beziehen der Feuerstellung 60 Sekunden und für das Verlassen 30 Sekunden benötigen und sechs Schuss pro Minute abgeben können. Allerdings benötigen diese für die Operation insgesamt 180 Sekunden und 144 Soldaten. Damit kommt KMW zu dem Schluss, dass der gleiche Effekt bei Nutzung der RCH 155 mit 50 Prozent weniger Systemen, einem Bruchteil des Personals in kürzerer Zeit möglich sei.
lah/20.8.2021