Die Verbesserung der Abschreckungsfähigkeit in Europa ist gegenwärtig ein wichtiges Thema für die Planer der NATO. Während in den 80er Jahren der Begriff Abschreckung eng mit Nuklearwaffen verbunden war, gehe es heute in erster Linie um die konventionelle Abschreckung, sagte General Christian Badia, Deputy Supreme Allied Commander Transformation, Anfang vergangener Woche auf der gemeinsam von BDLI und BDSV ausgerichteten Konferenz „HyperCon 2025“ in Berlin.
Wie er weiter ausführte, müssen dabei sowohl offensive als auch defensive Aspekte gleichzeitig berücksichtigt werden. So sei es erforderlich, umfassende „Air and Missile Defence“- und „Deep Precison Strike“-Fähigkeiten zur Verfügung zu haben. Badia wies darauf hin, dass beim Thema Deep Precision Strike bislang die USA innerhalt der NATO dominiert. Man werde sich damit auseinandersetzen müssen, dies zu verändern. Dabei sei gegenwärtig der Druck sehr hoch. „Wir haben keine Zeit mehr“, betonte der NATO-General. Man brauche die Fähigkeiten idealerweise „morgen“. Er wies darauf hin, dass Russland und China in der Tiefe des Raumes wirken können, und auch Nordkorea und Iran daran arbeiten.
Europa müsse die ganze Palette an Wirkmitteln von Drohnen über Marschflugkörper bis hin zu Hypersonic Glide Vehicles (HGV), gestartet von Land, Luft und See zur Verfügung haben, forderte der NATO-General. Dabei sollten nach seiner Meinung die europäischen Anforderungen im NATO-Kontext betrachtet werden. Es müsse zu einer Win-Win-Situation zwischen den USA und Europa kommen, so seine Vorstellung.
Badia wies darauf hin, dass zu einer glaubhaften Abschreckung neben den Waffensystemen auch die Fähigkeiten in den Bereichen Cyber und Space berücksichtigt werden müssen, um einerseits eine zeitkritische Shooter-to-Sensor-Kette und andererseits sichere Kommunikationslinien zu gewährleisten.
Bei der Entwicklung neuer Fähigkeiten in Europa sieht Badia einen sinnvollen Ansatz, dass mehrere Nationen gemeinsame Prototypen entwickeln und schnell mit der Produktion beginnen – außerhalb von klassischen EU-Ausschreibungsprozessen, die zu Verzögerungen führen. Auf der defensiven Seite sei das die Zusammenarbeit bei ESSI (European Sky Shield Initiative) auf der offensiven Seite die ELSA-Initiative. ELSA steht für European Long-range Strike Approach. Bei einer Beschaffung in den USA – so wollen beispielsweise die Niederlande Tomahawk-Marschflugkörper einführten – könnte es aufgrund der begrenzten Fertigungskapazitäten zu langen Lieferzeiten kommen, gab Badia zu bedenken.
Im Rahmen von ELSA haben sich Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Italien, Schweden und Polen zusammengetan und bereits 13 sogenannte Development Pillars, in denen die Fähigkeiten der zukünftigen Wirkmittel abgebildet sind, definiert. Einem Bericht der US-Publikation Defense News zufolge, der sich auf das französische Parlament als Quelle stützt, könnte womöglich schon im Juni festgelegt werden, welches Unternehmen als „Best Athlete“ für welchen Pillar zuständig sein wird. Diesseits des Rheins halten Industrievertreter diesen Ansatz allerdings für sehr ambitioniert. Zunächst müsse einmal festgelegt werden, welche Staaten bei welchem Pillar in der Führung seien und welche technischen Forderungen verlangt werden, heißt es.
Gut informierten Kreisen zufolge beansprucht Deutschland gemeinsam mit Großbritannien die Führung in dem Pillar mit Wirkmitteln der größten Reichweite. Während die Bundeswehr nur über den Taurus als luftgestützten Marschflugkörper mit mehreren Hundert Kilometern Reichweite verfügt, nutzt die Royal Navy den Tomahawk-Marschflugkörper und die Trident-ICBM – beide aus US-Fertigung, wobei die Trident als Träger von Atomsprengköpfen fungiert.
Dagegen dürfte Frankreich in Europa bei Abstandswaffen großer Reichweite die umfassendste Entwicklungserfahrung haben. So hat die im zivilen wie im militärischen Geschäft tätige ArianeGroup für die französischen Nuklearstreitkräfte die strategische ballistische Rakete M51 entwickelt, die wie die Trident von U-Booten gestartet wird. Dabei findet eine ständige Weiterentwicklung statt und die Franzosen haben auch den Start der Rakete unter Wasser gemeistert.
Hyperschall
Die ArianeGroup hat überdies zusammen mit ONERA den Hyperschallgleiter V-MAX (Véhicule Manœuvrant Expérimental) gebaut, mit dem bereits 2023 Flugtests erfolgreich durchgeführt wurden. Dabei stellte die Wiedereintrittsphase des Gleiters in die Atmosphäre mit den dabei auftretenden hohen Temperaturen eine besondere Herausforderung dar, wie Thomas Tschirner, Head of Defence Programmes Germany der ArianeGroup, auf der HyperCon2025 erläuterte. Deshalb seien dafür spezielle Keramik-Komposit-Materialien entwickelt worden.
Allerdings ist mittlerweile auch Großbritannien in die Entwicklung der Hyperschalltechnik eingestiegen. Vor etwa einem Jahr hatte das Ministry of Defence (MoD) angekündigt, einen Hyperschallflugkörper mit sogenannter Strike-Fähigkeit als rein nationales Projekt zu entwickeln. Wie es damals hieß, sollten sich 90 große und kleine Organisationen aus Industrie und Wissenschaft an dem eine Milliarde Pfund schweren Hypersonic Technologies & Capability Development Framework (HTCDF) teilnehmen. Im vergangenen Monat teilte das MoD in London dann mit, dass britische Wissenschaftler einen wichtigen Test des Hyperschallantriebs für Geschwindigkeiten von Mach 5 und mehr abgeschlossen haben. Nach Angaben des Ministeriums soll die Forschung die Lieferung eines Hyperschallwaffentechnologie-Demonstrators bis 2030 im Rahmen des MOD-Programms „Team Hypersonics (UK)“ unterstützen.
Auch im Rahmen des European Defence Fund (EDF) wird ein Hyperschall-Gleiter entwickelt. Wie es im vergangenen Jahr in der Projektbeschreibung mit dem Titel „Countering hypersonic glide vehicles“ heißt, soll ein repräsentatives Modell eines Hyperschallgleitfahrzeugs (HGV) entworfen werden, zusammen mit einem vereinfachten, grundlegenden HGV-Demonstrator, der im Flug getestet werden soll. „Die Ergebnisse dieses Themas könnten unter anderem zur Entwicklung wirksamerer Abwehrmaßnahmen gegen hyperschallbasierte Bedrohungen, einschließlich Marschflugkörper, beitragen“, hieß es im Text des EDF. Beobachter halten es jedoch für möglich, dass die gewonnenen Erkenntnisse auch zur Entwicklung eines Hyperschallgleiters als Deep-Strike-Precision-Waffe genutzt werden könnten.
Mittlerweile hat der EDF auch den Zuschlag an ein Konsortium vergeben und will 78 Millionen Euro in das Vorhaben investieren. Da das Projekt mittlerweile als „geheim“ eingestuft worden ist, sind keine weitere Details veröffentlicht worden. Insider wollen jedoch nicht ausschließen, dass wesentliche Anteile des Vorhabens auf deutsche Unternehmen entfallen.
Ballistische Raketen und Marschflugkörper
Die Entwicklung von Hyperschallwaffen dürfte aufgrund der noch nicht ausgereiften Technologie im Vergleich zu anderen Wirkmitteln am längsten dauern. Dagegen ist umfangreiches Know-how bei ballistischen Raketen vorhanden, wobei auch hier die ArianeGroup in Europa vermutlich über die umfassendsten Kenntnisse verfügen dürfte. Das Unternehmen profitiert bei seinen Arbeiten für das Militär auch vom Wissen aus der zivilen Raumfahrt. Wie ArianeGroup auf ihrer Homepage schreibt, haben die beiden Trägerraketen Ariane und M51 zahlreiche Gemeinsamkeiten: mehrere Stufen, Feststoffantrieb, Austritt aus der Atmosphäre, hohe Präzision bei der Einhaltung der Flugbahn und Positionierung der Nutzlasten.
Im Prinzip dürfte nichts dagegensprechen, dass auch Deutschland in Kooperation mit anderen Staaten die Expertise von ArianeGroup sowohl für ballistische Raketen als auch für Hyperschallwaffen nutzt. Das Unternehmen ist zu gleichen Teilen im Besitz von Airbus und Safran und hat neben seinen französischen Niederlassungen auch vier Standorte in Deutschland, wobei in Ottobrunn ein Kompetenzzentrum für hitzebeständige Keramik angesiedelt ist.
Sollte auch ein europäischer Marschflugkörper mit einer Reichweite von über 2.000 Kilometern gewünscht sein, für eine solches Konzept gibt es Fürsprecher in der Luftwaffe, könnte MBDA Deutschland seine Expertise einbringen. Das Unternehmen hat bereits den Taurus entwickelt. Beobachter gehen davon aus, dass im Rahmen des Pillars für Wirkmittel mit einer Reichweite über 2.000 Kilometer, eigentlich nur bodengebundene Systeme in Betracht kommen.
MBDA France hat zwar auf Basis der Missile de Croisiere Naval (MdCN) eine bodengestützte Variante, also eine Land Cruise Missile (LCM), vorgeschlagen. Offenbar reicht bei dieser Waffe die Reichweite nach deutschen Vorstellungen nicht aus, um den Gegner tief im Hinterland zu treffen.
Aufklärung
Bei den defensiven Fähigkeiten zur Abschreckung durch die Integrated Air and Missile Defence kommt es auch auf leistungsfähige Aufklärungsmittel an, wie General Badia ausführte. Dabei spielen Satelliten eine herausgehobene Rolle. Auch diese Fähigkeit wird innerhalb der NATO vor allem von den USA zur Verfügung gestellt.
Europa arbeitet im Rahmen des Projektes Odin’s Eye zwar an eigenen Fähigkeiten. Allerdings scheint das Vorhaben schon aufgrund der Größe der Teilnehmerzahl und Komplexität nicht recht voranzukommen.
Wie aus gut informierten Kreisen zu vernehmen ist, plant die Bundeswehr nun eigene Fähigkeiten aufzubauen. Dem Vernehmen nach sollen zwei eigene Satelliten zur Infrarotaufklärung, mit denen der Start von gegnerischen Raketen detektiert werden kann, bei Airbus Defence and Space bestellt werden.
Lars Hoffmann