Der European Defence Fund (EDF) hat Anfang des Jahres ein Projekt zur Entwicklung eines Hyperschall-Gleiters ausgeschrieben. Wie es in der Projektbeschreibung mit dem Titel „Countering hypersonic glide vehicles“ heißt, soll ein repräsentatives Modell eines Hyperschallgleitfahrzeugs (HGV) entworfen werden, zusammen mit einem vereinfachten, grundlegenden HGV-Demonstrator, der im Flug getestet werden soll.
Bei HGVs handelt es sich um Hyperschallwaffen, die mit ballistischen Raketen als Träger zunächst auf die notwendige Höhe und Geschwindigkeit gebracht werden, bis sie sich ausklinken und dann mit mehr als Mach 5 auf einer variablen und nicht vorhersehbaren Flugbahn ihr Ziel ansteuern. China, Russland, die USA und zuletzt auch Frankreich arbeiten bereits seit Jahren an dieser Technologie.
„Die Ergebnisse dieses Themas könnten unter anderem zur Entwicklung wirksamerer Abwehrmaßnahmen gegen hyperschallbasierte Bedrohungen, einschließlich Marschflugkörper, beitragen“, heißt es im Text des EDF. Die EU wolle damit einerseits ihre Abhängigkeit von nicht-EU-Lösungen verringern und andererseits einen Beitrag zur Entwicklung einer europäischen Luftverteidigung und Raketenabwehr leisten.
Beobachter gehen davon aus, dass die gewonnenen Erkenntnisse womöglich auch zur Entwicklung eines Hyperschallgleiters als Deep-Strike-Precision-Waffe genutzt werden könnten.
Der EDF will für das Vorhaben die Summe von 78 Millionen Euro bereitstellen. Typischerweise kommen noch weitere Mittel zur Kofinanzierung aus den Ländern der bietenden Unternehmen dazu. Den Angaben des EDF zufolge ist vorgesehen, nur einen Vorschlag zu finanzieren. Der Fund lässt sich allerdings eine Hintertür offen, indem er schreibt: „Abhängig von der Qualität der eingereichten Vorschläge und dem verfügbaren Budget könnten jedoch letztlich mehr als ein Vorschlag für dieses Thema finanziert werden.“ Interessierte Firmenkonsortien mussten ihre Vorschläge bis Anfang November abgeben, eine Entscheidung wird dann im kommenden Jahr verkündet. Bei großen EDF-Projekten schließen sich nicht selten über ein Dutzend Unternehmen und Institute zu Bietergemeinschaften zusammen.
Zur weiteren Begründung des Projektes heißt es, dass Hyperschallwaffen, die bestehende Luftverteidigungs- und Raketenabwehrsysteme umgehen können, bei zukünftigen Konflikten zunehmend gegen die Mitgliedstaaten der EU und die mit dem EDF assoziierten Länder eingesetzt werden könnten. Es seien zwar zahlreiche Modelle entwickelt worden, um HGV zu beschreiben, aber es bestehe ein weiterer Bedarf, das Wissen zu verbessern, um diese Bedrohungen abzuwehren.
Die beiden wichtigsten Player in Deutschland, die sich mit dem Thema Hyperschallbedrohungen befassen, dürften MBDA Deutschland und Diehl Defence sein. Beide Unternehmen beteiligen sich bereits an Projekten des EDF, in deren Rahmen Abfangflugkörper gegen Hyperschallwaffen entwickelt werden. Im EDF-Vorhaben HYDEF ist Diehl Defence technisch im Lead, während das zweite Projekt mit dem gleichen Ziel, das die Abkürzung HYDIS trägt, von MBDA geführt wird. Bei beiden Vorhaben hat das BMVg über Diehl Defence und MBDA Deutschland Zugang zu den dabei gewonnenen Informationen.
Da das Kanzleramt die Luftverteidigung als ein Schwerpunktthema für die Bundeswehr identifiziert hat, was unter anderem in der European Sky Shield Initiative (ESSI) zum Ausdruck kommt, wäre es nur logisch, wenn sich Deutschland auch an der Entwicklung des HGV-Demonstrators beteiligen würde, um wichtige Erkenntnisse über die Hyperschall-Technologie zu gewinnen.
Sollte ein Vorschlag unter deutscher Beteiligung den Zuschlag erhalten, würde das Verteidigungsministerium die vertretenen Firmen unterstützen. „Der Aufbau von militärischen Fähigkeiten zur Abwehr hypersonischer Bedrohungen liegt im besonderen Interesse des BMVg. Daher haben wir diese Ausschreibung der Europäischen Kommission als förderungswürdig erkannt und die grundsätzliche Möglichkeit der Kofinanzierung erklärt“, teilte ein Sprecher des Ministeriums auf Nachfrage mit. Die Entscheidung hierzu erfolge nach Prüfung der jeweiligen Bewerbung. Abschließend obliege die Förderauswahl der Europäischen Kommission.
Mindestens eine Flugdemonstration gefordert
Neben der Anfertigung von Studien muss im Rahmen des Projektes ein repräsentatives HGV-Modell entworfen und in einer relevanten Testumgebung validiert werden. Gefordert wird „mindestens eine Flugdemonstration eines vereinfachten grundlegenden HGV-Demonstrators“, dabei wird eine Kombination aus Simulation, bodengestützten Demonstrationen und Flugdemonstrationen erwartet. Die Flugdemonstrationen sollen in der erforderlichen Höhe – zwischen 30 und 80 km während der Gleitphase – mit einer Geschwindigkeit zwischen Mach 8 und Mach 12 gestartet werden, unter Verwendung angepasster Start- und Booster-Systeme.
Der zu entwickelnde HGV-Demonstrator sollte typische Merkmale von bekannten HGV-Waffensystemen potenzieller Gegner hinsichtlich Größe, Symmetrie und Nutzlast aufweisen. Ausgestattet wird er mit einer Reihe von Onboard-Sensoren, Datenerfassungssystemen und anderen Instrumenten, um Daten zu sammeln. Überdies muss er eine Fähigkeit zur Echtzeitübertragung von Messdaten (z. B. Telemetrie oder Datentransferlink-System) verfügen.
Um eine Doppelarbeit zu vermeiden, sollen die Vorschläge Synergien und Komplementaritäten mit geplanten, laufenden oder abgeschlossenen Aktivitäten im Bereich der Luft- und Raketenabwehr aufweisen. Dazu zählen solche zur frühzeitigen Warnung und raumbasierten Raketenfrühwarnung sowie EDF-2021-AIRDEF-D-EATMI153 und EDF-2023-DA-DS-AIRDEF-EATMI154. Bei den letzteren beiden handelt es sich um die oben genannten Vorhaben HYDEF bzw. HYDIS.
Frankreich bereits zwei Schritte voraus
Während beim EDF-Vorhaben die Angebotsauswertung läuft, ist Frankreich bei der Entwicklung eines HGV mindestens zwei Schritte voraus. Denn das Land hat ein Demonstrationsprogramm unter der Bezeichnung V-MAX (Véhicule MAnoeuvrant eXpérimental) begonnen, in dessen Rahmen bis zum kommenden Jahr die Technologien für die Entwicklung von Hyperschallgleitern in einer Reihe von Flugdemonstrationen erworben werden sollen, wie die ArianeGroup schreibt. Das Unternehmen wurde von der französischen Rüstungsbehörde DGA nach eigenen Angaben als industrieller Hauptauftragnehmer mit der Programmumsetzung beauftragt. Weitere Partner sind die DGA und der Agence d’Innovation de la Défense (AID). Die ArianeGroup ist auch Entwickler und Hersteller der strategischen französischen Atomrakete M51, die von U-Booten aus gestartet wird.
Bereits am 26. Juni vergangenen Jahres hat Frankreich den ersten Start-Test mit seinen V-MAX-HGV-Demonstrator erfolgreich umgesetzt. Damals wurde der Demonstrator mit einer Höhenforschungsrakete von einer speziellen Startbasis in Biscarrosse gestartet. Bei diesem ersten Flug über mehrere hundert Kilometer seien das Fluggerät und seine Manövrierfähigkeit beim Wiedereintritt in die Atmosphäre mit anschließenden Manövern im Hyperschallbereich getestet worden, schreibt die ArianeGroup. Der Demonstrator war demnach mit zahlreichen technologischen Innovationen ausgestattet, insbesondere in den Bereichen Wärmeschutz und Trägheitssensoren.
Die ArianeGroup hat diesen französischen Hyperschall-Demonstrator nach eigenen Angaben in enger Zusammenarbeit mit den Teams der DGA entwickelt, gebaut und implementiert. Dabei nutzt das Unternehmen die umfassenden Fachkenntnisse seiner Teams, insbesondere in den Bereichen aerothermodynamische Modellierung von Wiedereintrittsphänomenen in der Atmosphäre, Materialien und Hochtemperatur-Hitzeschutz, exo- und endo-atmosphärische Lenk- und Steuerungssysteme, Trägheitsnavigation, Feststoffantrieb, Sensoren und Antennen sowie Durchführung komplexer Testflüge.
Jetzt wird es interessant sein zu sehen, wie lange die Gewinner des EDF-Calls benötigen werden, um den gleichen Entwicklungsstand zu erreichen, den die französische DGA und der ArianeGroup mit dem Flugtest bereits demonstriert haben.
Lars Hoffmann