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Zwei deutsche Unternehmen mit zwei Konzepten

Die beiden Großmächte Russland und China arbeiten bereits seit Jahren mit Erfolg an der Entwicklung von Hyperschallflugkörpern und stellen die westlichen Staaten damit vor eine neue Herausforderung. Denn diese Waffen, die Geschwindigkeiten von mehr als Mach 5 erreichen, können anders als ballistische Raketen innerhalb der Atmosphäre Bahnkurven fliegen, die nicht vorauszusehen sind.  Das macht die Bekämpfung schwierig und erfordert neue Verteidigungssysteme, insbesondere neue Abfangflugkörper.

Vor dem Hintergrund dieser Situation arbeitet der europäische Lenkwaffenhersteller MBDA bereits seit einiger Zeit an einem neuen Flugkörper mit der Bezeichnung Aquila zur Abwehr hypersonischer und hoch agiler ballistischer Bedrohungen. Aquila solle eine Lücke in der so genannten Layered Air Defence oberhalb von Patriot- und SM-6-Flugkörpern in einer Höhe über 20 Kilometern füllen, sagte MBDA-Manager Florian Jülich, am vergangenen Mittwoch beim 24. DWT-Marineworkshop in Linstow südlich von Rostock. Seinen Worten zufolge muss ein zukünftiges Abwehrsystem überdies über Frühwarnfähigkeiten verfügen, etwa durch Satelliten oder Systeme wie AWACS.

Das Konzept von Aquila sieht eine dreistufige Rakete mit Staustrahltriebwerk – auch bekannt als Ramjet – vor. Die MBDA-Tochter Bayernchemie baut einen solchen Ramjet, bei dem es sich um eine deutsche Schlüsseltechnologie handelt, bereits für die Luft-Luft-Lenkwaffe Meteor.  Das so genannte Kill Vehicle – quasi die letzte Raketenstufe – von Aquila soll nach Aussage von Jülich über eine hohe Agilität verfügen und einen Direkttreffer ausführen können. Die dahinter liegende „Midcourse Section“ des Aquila-Flugkörpers besteht aus einem Ramjet mit flexibler Schubleistung. Diese Antriebslösung biete durch das luftatmende Triebwerk gegenüber anderen Konzepten einen Gewichtsvorteil, ermögliche variable Flugprofile mit regelbarer Geschwindigkeit und höhere Kurvengeschwindigkeiten, erläuterte der MBDA-Manager. Für die erste Phase des Fluges nach dem Start ist der Mittelsektion noch ein Booster-Triebwerk vorgeschaltet, der die Lenkwaffe auf die für den Ramjet-Einsatz notwendige Geschwindigkeit beschleunigt, und der später von der Rakete getrennt wird.

Nach Angaben von Jülich soll Aquila für die Marineanwendung sowohl mit dem amerikanischen Mark-41-Launcher als auch mit dem in der französischen Marine genutzten vertikalen Startsystem Sylver A-70 kompatibel sein. Beim Einsatz für die bodengebundene Luftverteidigung sieht das Unternehmen eine Kanister-Lösung vor.

Geplant ist überdies, dass der Flugkörper in der Marineanwendung auch von einem Schiff gelauncht werden kann, während ein anderes Aquila mit seinem Feuerleitradar zum Ziel führt.

Der Flugkörper soll nach Einführung in die Marine auch noch in seiner Nutzungsphase an neue Bedrohungen adaptiert werden können. Diese Anpassungsfähigkeit sie „intrinsisch“ im System angelegt, so Jülich. Um einen leistungsfähigen Abfangflugkörper zu entwickeln, ist es nach Aussage des MBDA-Managers erforderlich, die Bedrohung zu verstehen und an entsprechenden Technologien zu arbeiten. MBDA entwickelt nach eigenen Angaben bereits einen Hyperschall-Flugkörper, wollte aber während der Luftfahrtmesse ILA in Berlin vor einigen Monaten keine weiteren Details dazu nennen.

Aufgrund der langen Erfahrung mit dem Thema, etwa durch eigen- und kundenfinanzierte Studien, der Systemkenntnis von MEADS/TLVS und der Einbindung in einen europäischen Konzern sieht der MBDA-Manager sein Unternehmen gut für die Entwicklung des Abfangflugkörpers aufgestellt. Seiner Aussage zufolge steht das Unternehmen im Augenblick am Anfang der Konzeptphase. Er schätzt, dass ein Aquila-Flugkörper in einer frühen Ausbaustufe Anfang der 2030er-Jahre realisiert werden könnte.

Ansatz von Diehl

An einem eigenen Konzept für einer Hyperschall-Abfangflugkörper, quasi als Gegenentwurf zu Aquila, arbeitet auch der deutsche Konzern Diehl Defence, wie Diehl-Managerin Sinikka Salchow in ihrem Vortrag auf dem DWT-Marineworkshop ausführte. Das Konzept von Diehl wird dabei im Rahmen des Programms European Hypersonic Defence Interceptor (EU HYDEF) gefördert, der vom European Defence Fund (EDF) finanziert wird.  Im Rahmen einer dreijährigen Designstudie sollen dafür rund 110 Millionen Euro aufgewendet werden, wobei die Europäische Union bis zu 100 Millionen Euro beisteuern könnte. Koordiniert wird das Vorhaben von der spanischen Firma Sener Aerospacial. Weitere Teilnehmer am  Projekt kommen unter anderem aus Spanien und Norwegen. Die Partner hatten sich zur Überraschung vieler Beobachter bei der Ausschreibung des EDF gegen ein von MBDA geführtes Konsortium durchgesetzt, das offenbar mit dem Aquila ins Rennen gegangen war. Dem Vernehmen nach ist die europäische Rüstungsagentur OCCAR gegenwärtig mit der Vertragsgestaltung für EU HYDEF beauftragt, was sich womöglich noch bis ins kommende Jahr ziehen könnte.

Das Konzept von Diehl für die Iris-T HYDEF, wobei HYDEF für Hypersonic Defence steht, sieht einen zweistufigen Flugkörper vor, der auf bewährten Iris-T-Know-how basiert. Es soll überdies die Option vorhanden sein, eine weitere Booster-Stufe zu integrieren. Wie es heißt, könnte jedoch statt der Unterstufe mit Doppel- oder Multipuls-Feststoffmotor womöglich auch ein Ramjet-Antrieb eingebaut werden. Hierzu sind offenbar Untersuchungen geplant. Da das norwegische Unternehmen Nammo gerade die Entwicklung eines eigenen Ramjets vorantreibt, könnte sich dieser als Option anbieten.

Die Iris-T HYDEF soll darauf ausgelegt werden, sowohl ballistische als auch hypersonische Bedrohungen in Höhen über 20 Kilometern zu bekämpfen. Dabei soll die Waffe von Land, See und Luft einsetzbar sein und für den „Launch on Remote“ geeignet sein.

Die Unterstufe dient laut Diehl dazu, die Oberstufe in die Flugbahn eines gegnerischen hypersonischen Flugkörpers zu transportieren, den die Oberstufe mittels eines kinetischen Direkttreffers ausschalten soll. Dafür wird nach gegenwärtiger Planung die Oberstufe eine Querschubsystem erhalten, das sich mittels mehrerer Schubdüsen an das Ziel annähert und in der Lage ist, auch mehrere Ausweichmanöver zu fliegen. Nach Aussage von Sinikka Salchow wird damit eine sehr hohe Agilität im so genannten Endgame gewährleistet.

Nach Angaben von Diehl soll die Zielerfassung mittels Radar- sowie Multispektral-Infrarot-Suchkopftechnologien erfolgen. Dabei wird eine Neuentwicklung angestrebt, die an die atmosphärischen Bedingungen oberhalb 20 Kilometern Höhe angepasst wird. Diehl-Managerin Salchow betonte in ihrem Vortrag, dass Cyber-Security-Aspekte bei der Entwicklung immer wichtiger werden. Hier arbeite man gemeinsam mit Hensoldt an einem Sicherheitskonzept.

Es bleibt abzuwarten, ob in Europa in Zukunft ein ausreichend großer Markt für zwei konkurrierende Hyperschall-Abwehrflugkörper vorhanden sein wird. Oder ob die beiden Konzepte und Konsortien schlussendlich wieder in einem Projekt zusammengeführt werden – vielleicht sogar unter Beteiligung nicht-europäischer Partner. Schließlich hatten MBDA Deutschland und Diehl vor etwa zweieinhalb Jahren noch ein gemeinsames Konzept für einen Abwehrflugkörper vorgestellt.
lah/26.9.2022