Die Bundeswehr hat die im fränkischen Röthenbach ansässige EuroSpike GmbH mit der Herstellung und Lieferung von neuen Panzerabwehrlenkflugkörpern des Typs Spike LR2 mit einem Gesamtwert von rund 700 Millionen Euro beauftragt, wie hartpunkt aus gut unterrichteten Kreisen erfahren hat. Die neuen Lenkflugkörper sollen die Fähigkeiten der Bundeswehr im Bereich der Panzerabwehr steigern. Dem Vernehmen nach erfolgte der Auftrag auf Basis eines 2019 geschlossenen Rahmenvertrages. Bis Ende des Jahrzehnts soll der Bundeswehr Insidern zufolge eine hohe vierstellige Anzahl an LR2-Flugkörpern zulaufen.
Trotz des hohen Betrages konnte der Abruf der Lenkflugkörper erfolgen, ohne dass der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestags eine separate 25-Mio-Vorlage billigen musste. Einem Beschluss des Haushaltsausschusses von Mitte 2023 zufolge gelten für Munitionsbeschaffungen andere Regelungen als für die restlichen Beschaffungs- und Entwicklungsvorhaben der Bundeswehr mit einem Volumen oberhalb der 25 Millionen Euro. Demnach müssen Abrufe aus bereits genehmigten Rahmenvereinbarungen nicht mehr einzeln zur Billigung vorgelegt werden, sondern in Form eines Berichts über die im jeweiligen Zeitraum geplanten und erfolgten Abrufe aus Rahmenvereinbarungen und Rahmenverträgen übermittelt werden.
Die EuroSpike GmbH – ein Joint Venture von Rafael Advanced Defense Systems (20 Prozent), Diehl Defence (40 Prozent) und Rheinmetall Electronics (40 Prozent) – wurde vom Bundeswehr-Beschaffungsamt BAAINBw bereits im Februar 2022 mit der Lieferung von Qualifikationshardware zur Qualifizierung des Lenkflugkörper MELLS LR2 beauftragt. MELLS steht für das Mehrrollenfähige Leichte Lenkflugkörper-System und basiert auf dem marktverfügbaren Produkt Spike Long Range des israelischen Rüstungskonzerns Rafael Advanced Defence.
Nach Angaben der deutschen Streitkräfte wird MELLS hauptsächlich im deutschen Heer (Infanterie, Panzergrenadiertruppe und Pioniertruppe), dem Kommando Spezialkräfte sowie Kräften der deutschen Marine genutzt. Das System ist darüber hinaus auf den Schützenpanzern Marder sowie Puma (Konstruktionsstand VJTF 2023) integriert worden.
In der derzeitigen Version LR1 eignet sich MELLS zum Kampf gegen ein breites Zielspektrum am Boden in einem Entfernungsbereich von 200 bis 4.000 m. Zum Zielspektrum zählen der Bundeswehr zufolge „Kampfpanzer, gepanzerte Waffensysteme und gehärtete Stellungen, Ziele im Schutzstand (d.h. Ziele hinter Deckungen) und so genannte Technicals (allgemeine technische Ziele, bspw. umgebaute und provisorisch gehärtete landwirtschaftliche Maschinen und Fahrzeuge oder gar Baumaschinen). Weiterhin wird MELLS gegen langsam fliegende und sich im Standschwebeflug befindliche Hubschrauber im bodennahen Luftraum auf mittlere Entfernung eingesetzt.“
Die deutschen Streitkräfte haben zwar vor geraumer Zeit bereits die moderne Waffenanlage des Typs integrated Command and Launch Unit (iCLU) eingeführt, aber diese ausschließlich zum Verschuss von älteren Flugkörpern des Typs Spike LR1 eingesetzt. Damit konnten viele Vorteile des Panzerabwehrlenkflugkörpersystems der 5. Generation nicht genutzt werden.
Der Einsatz der nunmehr auf den modernsten Stand gebrachten Waffe – iCLU und Spike-LR2-Flugkörper – ist in den Modi „Fire & Forget“, „Fire & Observe“, sowie „Manual Mode“ möglich. Im „Fire & Forget“-Modus lenkt sich der Lenkflugkörper nach Verschuss ohne weitere Bediener-Maßnahmen in das erfasste Ziel. Im Fire & Observe-Modus hingegen kann der Schütze nach dem Abschuss das Ziel wechseln oder die Bekämpfung abbrechen. Außerdem erlaubt die Waffe eine Zielbekämpfung, ohne dass der Schütze beim Abfeuern das Ziel sieht („Non-Line of Sight“, NLOS). In der Endphase kann der Schütze den Angriffswinkel wählen: direkt oder von oben.
Der LR2-Flugkörper wiegt 13 kg, ist 1,2 Meter lang und hat einen Durchmesser von 13 cm. Nach Angaben des Herstellers verfügt der Spike LR2 über einen leistungsstarken Tandem-HEAT-Gefechtskopf, der alle heutigen Panzer und Fahrzeuge vernichten kann. Es wird aber auch eine Variante mit einem Mehrzweckgefechtskopf angeboten, welche von der Bundeswehr jedoch bis dato nicht beschafft wurde.
Weitere Vorteile des LR2-Lenkflugkörpers gegenüber der Version LR1 sind unter anderem:
- Reichweitensteigerung von 4.000 Meter auf bis zu 5.500 Meter.
- Verbesserte Steuerung und die Möglichkeit einer höheren Flugbahn, die einen steileren Endanflugwinkel von bis zu 70 Grad erlaubt. Dies ermöglicht eine bessere Wirkung hinter Deckungen sowie die Ausnutzung von Schwachstellen in der Panzerung des Zieles.
- Verbesserte Optronik des Flugkörpers mit einer besseren Auflösung für den Schützen und der Möglichkeit, den Suchkopfsensor auch im Flug in den Modi visual/infrarot zu wechseln.
- Nutzung eines ungekühlten IR-Suchers. In der Version LR1 muss der IR-Sucher mittels einer Gaspatrone gekühlt werden. Einmal aktiviert, steht die Funktion für eine weitere Aktivierung nicht mehr zur Verfügung, bis die Gaspatrone getauscht wird. Der Lenkflugkörper kann somit nur noch im Visual-Modus genutzt werden, bis eine neue Patrone eingesetzt wird.
Waldemar Geiger