Die Luftwaffe soll in Zukunft die Fähigkeit zur so genannten territorialen Flugkörperabwehr erhalten, bei der es um den Schutz ganzer Staaten vor der Bedrohung durch ballistische Raketen geht. Erste Strukturelemente dafür sind bereits aufgebaut worden, allerdings muss für die Aufgabe noch ein neues Abwehrsystem beschafft werden, da die vorhandenen Patriot-Staffeln dafür nicht geeignet sind.
Die Auswahl des neuen Systems wird oft nicht nur von den Fähigkeiten, sondern auch durch die Kosten determiniert. Das hat wohl auch die Bundeswehr so gesehen und suchte noch bis vor kurzem ein Unternehmen, das eine entsprechende Bewertung durchführt. Entsprechend wurde eine Ausschreibung für die „Wirtschaftlichkeitsuntersuchung NLFZ Territoriale Flugkörperabwehr“ im Juli veröffentlicht. Von Bewerbern wurden dabei Kenntnisse in den Bereichen Flugabwehrsimulation und Integration von Lenkflugkörpersystemen gefordert, die in den vergangenen fünf Jahren in einem Projekt genutzt wurden, sowie eine Markterkundung vorgenommen haben. Laut Mitteilung vom 22. August wurde das Vergabeverfahren nun allerdings ohne Angaben von Gründen eingestellt. Das könnte darauf hindeuten, dass sich das BMVg bereits für eine Lösung entschieden hat.
Arrow 3 und THAAD in der Betrachtung
Fachkreisen zufolge wurden für Deutschland nur zwei Lösungen in Betracht gezogen. Dabei handelt es sich um das israelische System Arrow 3 und das US-System THAAD. In den Medien war im Frühjahr als mögliches System für einen „Raketenschutzschild“ – also die territoriale Flugkörperabwehr – das System Arrow 3 aus Israel geradezu gehypt worden. Die in der Presse veröffentlichten Kosten wurden mit rund zwei Milliarden Euro beziffert, was allerdings in Fachkreisen als sehr optimistisch eingeschätzt wird.
Dagegen berichteten nur wenige Medien darüber, dass Deutschland auch eine Anfrage in die USA zum System THAAD von Lockheed Martin geschickt hatte. THAAD – das Akronym steht für Terminal High Altitude Area Defence – wird von den US-Streitkräften zur Abwehr von Kurz- und Mittelstreckenraketen sowie eingeschränkt zur Bekämpfung von so genannten Intermediate Range Ballistic Missiles eingesetzt.
Außer den USA wird THAAD in Zukunft auch von Streitkräften der Vereinigten Arabischen Emirate genutzt. Bestellt wurde das System eben von Saudi-Arabien. Einer Veröffentlichung der Defense Security Cooperation Agency der USA zufolge, hat das US-Außenministerium einem einen Verkauf von THAAD an die Vereinigten Arabischen Staaten im Rahmen eines so genannten Foreign Military Sale zugestimmt. Die möglichen Gesamtkosten werden mit 2,245 Milliarden Dollar beziffert. In dieser Summe enthalten sind 96 THAAD-Flugkörper, zwei Launch Control Stations (LCS) sowie zwei Tactical Operations Stations (TOS). Weiter enthalten sind unter anderem die Systemintegration, Ersatzteile, Support und Test-Ausrüstung, technische Dokumentation, Konstruktionsleistungen, Verschlüsselungstechnik, Verschlüsselungs- und Kommunikations-Ausstattung.
Grundsätzlich ist eine THAAD-Batterie der US Army LKW-gestützt, verfügt über sechs Launcher mit jeweils acht Abwehrflugkörpern – bis zu neun Launcher pro Batterie wären möglich – sowie das AN/TPY-2-Radar. Dabei handelt es sich um ein großes X-Band-Radar, das wie seine drei weiteren Komponenten, die Electronic Equipment Unit, die Cooling Equipment Unit sowie die Prime Power Unit mittels Sattlaufliegern mobil gemacht werden. Die Electronic Equipment Unit gilt als das „Gehirn“ des Radars, weil dort die Signaldatenverarbeitung erfolgt. Um eine 360-Grad-Abdeckung zu erreichen, sind mehrere Radare erforderlich. Während andere Ansätze wie das lange von Deutschland vorangetriebene Taktischen Luftverteidigungssystem (TLVS) ein Weitbereichsradar sowie ein Feuerleitradar vorsehen, vereint das AN/TPY 2 beiden Funktionen in einem.
THAAD mit Infrarot-Sucher
Der THAAD-Interceptor soll sich nähernde Raketen in der Endphase ihres Fluges abfangen und kann sowohl exo- als auch endoatmosphärisch eingesetzt werden. Damit überlappt der THAAD-Effektor beim für den Einsatz nutzbaren Höhenband am unteren Ende mit dem vom Patriot-System verwendeten Flugkörper PAC-3 MSE im „Lower Tier“, der ebenfalls von Lockheed Martin hergestellt wird, und am oberen Ende mit dem SM-3-Flugkörpern des Aegis-Systems, die nur gegen Ziele außerhalb der Atmosphäre eingesetzt wird.
Der über einen Infrarot-Sucher verfügende THAAD-Flugkörper ist mit einem so genannten Hit-to-Kill-Gefechtskopf ausgestattet, verfügt also über keinen Sprengstoff. Um mit der eigenen kinetischen Energie eine angreifende ballistische Rakete vernichten zu können, ist deshalb zwingend ein Direkttreffer erforderlich.
Den Angaben der amerikanischen Missile Defence Agency zufolge ist THAAD interoperabel mit anderen Systemen für die so genannte Ballistic Missile Defense (BMD). Lockheed Martin hat überdies kürzlich in einem Test nachgewiesen, dass der Patriot-Flugkörper PAC-3 MSE auch aus einem THAAD-Launcher verschossen und vom THAAD-X-Band-Radar geführt werden kann. Dies bringt den Vorteil mit sich, dass die Leistungsreserven des PAC-3 MSE besser als bei Einbindung in Patriot ausgeschöpft werden können, wo das bislang eingesetzte Radar einen beschränkenden Faktor darstellt.
Das könnte auch für die Bundeswehr interessant sein, da die Luftwaffe ebenfalls den PAC-3 MSE beschaffen will. Deutschland hatte bereits 2019 den Kauf von 50 PAC-3 MSE in den USA angefragt. Dabei dürfte es sich um den im Augenblick leistungsfähigsten Flugkörper für das Patriot-System handeln. Der PAC-3 MSE war auch für TLVS vorgesehen, das im Augenblick auf Eis liegt.
Einbindung in NATO-Strukturen
Dass THAAD in die BMD-Struktur der NATO eingebunden werden kann, hat das System Fachkreisen zufolge 2019 nachgewiesen. Damals wurden THAAD-Kräfte nach Rumänien verlegt, um dort das sich in Wartung befindliche AEGIS-Ashore-System temporär zu ersetzen. Wobei damals offenbar eine volle Integration in die NATO-Architektur erfolgt sein soll. Auch dies dürfte ein wichtiger Punkt für die Bundeswehr sein, da auch die territoriale Flugkörperabwehr in NATO-Strukturen eingebunden werden muss.
Presseberichten zufolge wurde das System auch bereits mindestens einmal im scharfen Einsatz eingesetzt. Wie viele Systeme für den Schutz eines Raumes benötigt werden, hängt von der Art und Geschwindigkeit der anfliegenden Raketen ab. Je schneller diese sind, desto mehr Abfangraketen werden benötigt. Hier wird es spannend, welches Zielspektrum die Bundeswehr letztendlich definiert. Denn Interkontinentalraketen fliegen zum Teil doppelt so schnell wie Mittelstreckenraketen, was höhere Anforderungen an die Abwehr-Architektur stellt – und das russische Raketenarsenal besteht nun einmal zu einem großen Prozentsatz aus solchen Interkontinentalraketen. Bei der Abwehr von Interkontinentalraketen dürfte Arrow 3, zumindest laut den verfügbaren Informationen, einen Vorteil gegenüber THAAD haben. Auch die Äußerungen des Bundeskanzlers vor wenigen Tagen in Prag zum Aufbau neuer Luftverteidigungsfähigkeiten deuten sehr stark auf Arrow 3 hin.
lah/31.8.2022