Bereits seit geraumer Zeit arbeitet die Bundeswehr an der Ausstattung ihrer Landstreitkräfte mit digitaler Kommunikationstechnologie für den mobilen Einsatz. Die nun angelaufene Modernisierung der Panzergrenadierbrigade 37 im Rahmen der VJTF 2023 und das Projekt Digitalisierung landbasierter Operationen (D-LBO), bei der ein erstes Kräftedispositiv im Zeitraum 2023 bis 2024 mit neuer Technik ausgestattet werden soll, markieren den Beginn der Umsetzungsphase.
Die gegenwärtigen Strukturen der Bundeswehr sind allerdings nicht für die Ausrüstung, das Testen, den Betrieb sowie die Weiterentwicklung von moderner Digitaltechnik in der Truppe ausgerichtet. Aus diesem Grund kündigte der damalige Chef des Amtes von Heeresentwicklung, Brigadegeneral Reinhard Wolski, bereits im Jahr 2018 die Einrichtung eines so genannten Systemzentrums Digitalisierung Land an.
„Nur mit dem Systemzentrum werden wir die Digitalisierung in den Griff bekommen“, sagt Oberst Frank Pieper, Chief Digital Officer des Heeres. Denn es müsse ein dauerhafte Adaptionsfähigkeit von digitalen Innovationen sichergestellt werden. Dazu sei es erforderlich, Know-how und Personal zu bündeln. Wie Pieper im Gespräch mit hartpunkt.de ausführt, sollen jedoch nur Dinge übernommen werden, die im Einsatz einen Mehrwert bringen.
Nach Aussage des Chief Digital Officers wurde bereits früh festgelegt, dass das Heer stellvertretend für die gesamten Landstreitkräfte – zu denen unter anderem Teile der Streitkräftebasis, der Sanitätstruppe und des Kommandos CIR gehören – für die Einführung und den Betrieb der zukünftig genutzten Software und der benötigten Services ein Zentrum aufbauen soll. Dem Vernehmen nach wird das Heer in Kürze dem BMVg einen konkreten Vorschlag für die Ausgestaltung eines Systemzentrums vorlegen. Das Ministerium ist dann am Zug, über das weitere Vorgehen zu entscheiden.
Das Gefechtsübungszentrum des Heeres (GÜZ) verfügt – wie im Bild zu sehen – bereits über eine moderne IT-Infraskruktur. Womöglich ein Vorbild für das Systemzentrum Digitalisierung Land. Foto: lah
In dem neuen Zentrum soll nach den Vorstellungen des Heeres eine Reihe von Aufgaben zusammenzufallen, die bei einer räumlichen Verteilung über die Bundesrepublik und der Delegation auf verschiedene Organisationen vermutlich nicht effizient umgesetzt werden könnten. Unterstellt wird das Systemzentrum dem Amt für Heeresentwicklung.
Helpdesk für genutzte Software-Lösungen
Eine Kernaufgabe wird den Planungen zufolge die Unterstützung bei der Nutzung von Software-Lösungen sein. Dazu wird unter anderem ein Helpdesk für die Nutzer des im Rahmen der Digitalisierung verwendeten Battle-Management-Systems (BMS) eingerichtet. Hier sollen Soldaten aufgetretene Probleme und Fehler melden und Hilfe von kompetenten Ansprechpartnern erhalten. „Mit der Einführung der BMS muss das Deutsche Heer nun erstmals eine Software betreiben“, betont Pieper.
Für einen solchen Helpdesk dürfte schon in Kürze Bedarf bestehen. Denn erstmals für die VJTF 2023 verwendet die Bundeswehr mit Sitaware Frontline von Systematic ein aktuelles Battle Management System. Dabei handelt es sich letztendlich um eine militärische Software für mobile, überwiegend in Fahrzeugen montierte Endgeräte der Landstreitkräfte. Mit einem solchen BMS kann unter anderem die eigene Position und die der verbündeten Kräfte anzeigt werden.
Es liegt auf der Hand, dass bei Funktionsstörungen seines IT-Systems in einem realen Einsatz der Soldat kurzfristig auf Fachexpertise zurückreifen muss und nicht gezwungen sein sollte, in Bedienungshandbüchern zu blättern.
Bei der Einführung des im Augenblick eingesetzten Führungsinformationssystems Heer wurde der Aufbau einer solchen Organisation offenbar versäumt. In der Folge habe das System trotz guter Funktionalitäten keine Akzeptanz in der Truppe gefunden, weil Ansprechpartner bei Fehlfunktionen nicht zur Verfügung stünden, erläutert Pieper. „Diesen Fehler dürfen wir nicht wiederholen.“
Einführung von Software wird begleitet
Als weitere Kernaufgabe des Systemzentrums sehen die Planer darüber hinaus die Betreuung bei der Einführung und den Betrieb für jegliche im Rahmen von D-LBO genutzte Software. Dazu würde eine spezielle Einführungsorganisation aufgebaut. Denn in Zukunft wird die Bundeswehr neben dem BMS noch weitere Software-Produkte einführen. Etwa der so genannte Core der D-LBO, bei der es sich um eine Middleware handelt. An dieser sollen Lösungen wie das BMS angehängt werden. Bei dem im Zulauf befindlichen BMS handelt es ich um eine Kauflösung, dagegen wird die zukünftige Middleware speziell für die Bundeswehr entwickelt. Damit liegen dann auch die intellektuellen Eigentumsrechte bei den Streitkräften.
Während vermutlich der größte Teil der im Systemzentrum eingesetzten Spezialisten von der Bundeswehr gestellt wird, könnte womöglich die BWI GmbH den Aufbau einer Service-Einheit unterstützen. Denn das bundeseigene Unternehmen übernimmt bereits ähnliche Aufgaben für die nicht-militärische Bundeswehr-IT.
Überwachung von Fahrzeugen möglich
Software wird allerdings nicht nur zur Vernetzung von mobilen Einheiten und zur Kommunikation untereinander eingesetzt. Auch die vom Heer und den anderen Teilstreitkräften genutzten Fahrzeuge verwenden zunehmend digitale Technik – von der Motorsteuerung bis zur Sensorik. So gilt der Schützenpanzer Puma als digitales Waffensystem, das in Zukunft – ähnlich modernen Personenkraftwagen – kontinuierlich online mit einem Betriebszentrum verbunden sein wird. Mittels Nutzung Künstlicher Intelligenz (KI) würden die Fahrzeuge einer Puma-Kompanie ständig überwacht. Bei Auffälligkeiten, wie einem abfallenden Öldruck, könnte dann eine Ingenieur oder Wartungsfeldwebel in der Überwachungszentrale im Systemzentrum unmittelbar präventive Maßnahmen einleiten oder dem Kommandanten Anweisungen geben.
Erforderlich wäre insbesondere für die Lösung komplizierter Probleme bei Fahrzeugen und Waffensystemen der Zugriff auf Referenzarchitekturen, die im Systemzentrum vorgehalten werden. So könnte jeweils ein „digitaler Zwilling“ – so zum Beispiel das virtuelle 3-D-Modell eines Pumas mit Hard- und Software – aller komplexen Landsysteme abgelegt sein. Physisch müssten die Systeme nicht vorhanden sein. Die Bearbeitung der Probleme würde komplett digital und mit Hilfe von Lösungen der „Virtual Reality“ erfolgen. Vergleichbare Techniken werden bereits heute bei Herstellern von Schiffsantrieben eingesetzt, wo die Schulung beziehungsweise Fehlersuche nur über eine Virtual-Reality-Brille erfolgen. In diese Brille werden dann Motoren oder Getriebe eingespielt.
Kinderkrankheiten vermeiden
Bevor es zur Beschaffung und zur Einführung kommt, will das Heer in Zukunft neue Software auf Herz und Nieren prüfen, um teure und langwierige Nachbesserungen auf Grund von „Kinderkrankheiten“ zu vermeiden. „Wir werden dafür einen Testverband haben“, erläutert der Chief Digital Officer. „Ziel ist es, so früh wie möglich die Nutzer-Expertise einzubringen.“ Bereits für die wettbewerbliche Auswahl des gegenwärtig in der Einführung befindlichen Battle Management Systems war ein Test- und Versuchsverband mit einer großen Bandbreite an Heeressystemen – vom Boxer bis zum Leopard 2 – aufgestellt worden. Dieser Test- und Versuchsverband soll nun dauerhaft etabliert werden und in Zukunft auch die Einsatzprüfung, das heißt die finale Abnahme neuer Produkte, durchführen. Besonders wichtig ist dieses Vorgehen, weil die acht Brigaden des Heeres sukzessive digitalisiert werden. Um die hohe Geschwindigkeit bei der Entwicklung der zivilen IT für die Bundeswehr nutzbar zu machen, wird voraussichtlich jede neu gerüstete Brigade modifizierte Software- und Hardware-Komponenten erhalten. Diese sollten frühzeitig auf Praxistauglichkeit untersucht werden.
Gegenwärtig präferieren die Planer offenbar die Örtzetal-Kaserne in Munster für den Aufbau des zukünftigen Systemzentrums. Neben den dort verfügbaren Liegenschaften ist bereits das Zentrum für Software-Kompetenz vor Ort angesiedelt, das eine wichtige Rolle übernehmen soll. In die Beschaffung von Software wären dann Wehrtechnische Dienststellen, Test- und Versuchsstrukturen und das Zentrum für Software-Kompetenz einbezogen. Dem Vernehmen nach soll das Zentrum möglichst mit weniger als 500 Spezialisten auskommen, von denen etwa zwei Drittel von der Bundeswehr gestellt würden. Der Anstoß zur formalen Schaffung einer neuen Dienststelle steht offenbar unmittelbar bevor.
Umfangreiche Testmöglichkeiten angestrebt
Um qualitativ hochwertige Ergebnisse zu erzielen, soll der Test- und Versuchsverband von der Simulation in einem virtuellen Umfeld bis hin zum scharfen Schuss auf den nahegelegenen Truppenübungsplätzen Bergen und Munster über vielfältige Test-Optionen verfügen. Die Simulation soll in einer „Trainingsarea“ mit Virtual Reality und gegebenenfalls ergänzt durch Holografie erfolgen. Dazu müssten allerdings neue Gebäude gebaut werden, die modernen Anforderungen entsprechen. Starten soll das Systemzentrum zunächst jedoch in Bestandsimmobilien, die später um Container ergänzt werden, bis schließlich ein neues Gebäude dazukommt. Dieses soll nach den Vorstellungen des Heeres architektonisch und in Hinblick auf die Ausstattung und interne IT-Infrastruktur das High-End darstellen.
Chief Digital Officer Pieper bezeichnet diese Trainingseinrichtung als „großen virtuellen Sandkasten“. In einer solchen Halle sollen Tests laufen, ohne physisch ins Gelände zu gehen. Dazu müsse auch eine Rechenkapazität vorhanden sein, um Testserien mit kleinen Einheiten auf große Verbände zu übertragen.
Außerdem soll eine Algorithmen-gesteuerte Datenbank im Digitalzentrum liegen. Diese wird benötigt, wenn große Datenmengen aus den im Rahmen von D-LBO vernetzten Sensoren verarbeitet werden – etwa um Zielzuweisungen für Wirkmittel zu generieren.
Schließlich soll es möglich sein, Tests in der Sandbox laufen zu lassen, ohne andere IT-Bereiche der Bundeswehr zu kontaminieren. Dazu muss eine Abschottung von den anderen Systemen möglich sein. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Aufstellung einer eigenen Cyber-Abwehr-Einheit.
Das Zentrum würde dann wohl auch das von Frankreich und Deutschland zu entwickelnde Main Ground Combat System (MGCS) frühzeitig auf Truppentauglichkeit untersuchen. „Man könnte das MGCS dann auch mit dem Versuchsverband im Rahmen von D-LBO testen“, so Pieper. Das MGCS würde in einen digitalisierten Wirkverbund eingebettet, um zum Beispiel zu untersuchen, ob Daten von anderen Fahrzeugen verarbeitet und weitergegeben werden können.
Das Systemzentrum wäre aufgrund der dort erkannten Fähigkeitsbedarfe vermutlich auch ein wichtiger Partner des Cyber- und Innovation-Hubs der Bundeswehr in Berlin. Dieser Hub könnte Bedarfe der Bundeswehr mit der Verfügbarkeit und Entwicklungskapazitäten auf dem freien Markt abgleichen und Start-Up-Unternehmen für bestimmte Aufgaben finden. Um dem Anspruch gerecht zu werden, auch die anderen Teilstreitkräfte einzubinden, sind diese an der Planung beteiligt. „Auch die Luftwaffe ist bei der Konfiguration der luftgebundenen Anteile des Zentrums dabei“, sagt Pieper. Die Forward Air Controller seien schließlich Teil des Systems.
Inhouse-Gesellschaft als Betreiber?
Beobachter gehen davon aus, dass für den sicherheitsrelevanten inneren Kern des Systemzentrums lediglich eine Inhouse-Gesellschaft des Bunds als Betreiber in Frage kommt. Offenbar gibt es jedoch noch kein umfassendes Konzept, wie privatwirtschaftlich organisierte Unternehmen in anderen Segmenten eingebunden werden können.
„Wenn alles funktioniert, befinden sich die Soldaten im Systemzentrum in einem digital Second Life“, erläutert Pieper. Es würden Dinge getestet, die erst später in den Rollout kommen. Angestrebt wird, dass die Soldaten des Zentrums der Gegenwart um fünf Jahre voraus sind, so Pieper.
Auch wenn sich das Konzept eines Systemzentrums im Augenblick noch nach Zukunftsmusik anhört: Nach den Prinzipien dieses Konzeptes arbeitet bereits heute die Einführungsorganisation für das Battle Management System der VJTF 2023. Überdies wird dafür eine Betriebsorganisation mit Personal des Heeres und der Streitkräftebasis aufgebaut, erläutert Pieper. Und da offenbar das neue BMS auch für das erste Kräftedispositiv der D-LBO eingesetzt wird, können die jetzt entstehen Ressourcen – vermutlich unter anderem Namen – nahtlos weitergenutzt werden.
Möglicherweise ist das Systemzentrum bereits in Grundzügen einsatzbereit, wenn das Kräftedispositiv 1 ausgestattet wird. Nach Aussage von CDO Pieper handelt es sich dabei um das zentrale Projekt zur Umsetzung der D-LBO und „einen wirklichen Quantensprung nach vorne, sowohl von der Fähigkeit als auch von der Architektur“.
lah/19.5.2020