Die Bundeswehr hat offenbar in Folge des Bergkarabach-Konfliktes die eigenen Defizite bei der Abwehr von Drohnen erkannt und will diese Lücke in den kommenden Jahren schließen.
So sollen bis spätestens 2026 neue Fähigkeiten in der mobilen Flug- und Drohnenabwehr aufgebaut werden, wie das Verteidigungsministerium heute in einer Mitteilung schreibt. Dies werde durch eine Erstbefähigung des Luftverteidigungssystems für den Nah- und Nächstbereichsschutz (LVS NNbS) geschehen. Damit sei beabsichtigt, das veraltete, qualitativ und quantitativ unzureichende leichte Flugabwehrsystem Ozelot zu ersetzen.
Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer hat dem Parlament heute einen bereits vor Monaten angekündigten Vorschlag zur zukünftigen Ausrichtung der „bodengebundenen Luftverteidigung“ vorgelegt. Danach ist in einem ersten Schritt beabsichtigt, ab 2023 die Modernisierung des Systems Patriot vorzunehmen. Damit würden die bestehenden Fähigkeiten in der Raketenabwehr zunächst bis 2030 sichergestellt. Dem Vernehmen nach sollen die aus Deutschland stammenden Komponenten des Systems wie Gefechtsstand, Transportfahrzeuge und Stromerzeugung für voraussichtlich mehr als eine halbe Milliarde Euro erneuert werden.
Bei der den Bundestagsabgeordneten präsentierten Gesamtschau wurde die Bedrohungslage aus der Luft analysiert und den bestehenden Fähigkeiten in diesem Segment gegenübergestellt. Dabei kommt das Ministerium zu dem Ergebnis, dass die Abfangschichten der Luftverteidigung (Raketenabwehr, Flugabwehr und Drohnenabwehr) zu einem effektiven Gesamtsystem zu verschmelzen und weiterzuentwickeln sind. Ziel sei der bruchfreie Erhalt und die schrittweise Modernisierung des Gesamtsystems der bodengebundenen Luftverteidigung. Den Abgeordneten wurde dazu eine Entscheidungsmatrix präsentiert.
Für das Vorhaben LVS NNbS besteht nach Einschätzung des Ministeriums ein hohes Kooperationspotenzial in Europa an. „Neben einer Partnerschaft mit den Niederlanden, mit welchen wir bereits intensiv im Bereich der bodengebundenen Luftverteidigung im Projekt Apollo unterwegs sind, wären auch Beschaffungs- bzw. Nutzungskooperationen mit weiteren EU- und NATO-Partnern denkbar“, schreibt das Ministerium.
Das ist naheliegend, denn auch die anderen Länder sind in der Regel nur unzureichend für die Abwehr von Drohnen ausgerüstet. Insbesondere das Auftreten von Schwärmen von Klein- und Kleinstdrohnen bereitet den Planern Kopfzerbrechen. Denn diese lassen sich nicht wirtschaftlich mit Raketensystemen bekämpfen und auch elektronische Störmaßnahmen dürften nur begrenzt wirksam sein. Wie es heißt, kommen als Partnerstaaten Finnland, Norwegen, Rumänien, Schweden, Tschechien und Ungarn in Betracht. Dem Vernehmen nach hat Ungarn – das sich mittlerweile stark an der Bundeswehr orientiert – bereits das Interesse an einer 35mm-Kanonenlösung auf Lynx-Fahrgestell geäußert. Allerdings hat sich Budapest bei den Boden-Luft-Raketen für das norwegische NASAMS-System entschieden.
Ob die für die VJTF 2023 vorgesehene „qualifizierte Fliegerabwehr“ ein probates Gegenmittel gegen unbemannte Flugobjekte darstellt, kann bezweifelt werden. Denn die als Effektor verwendete 40mm-Granatmaschinenwaffe dürfte mit der Abwehr moderner Drohnen überfordert sein. Aus diesem Grund wird offenbar erwogen, einen Teil des ab 2025 projektierten NNbS-Teilprojektes vorzuziehen, um gegen Kleinstdrohnen wirken zu können. Dabei werden sowohl Maschinenkanonen als auf Lasereffektoren ins Auge gefasst. Während beim Laser noch erheblicher Entwicklungsbedarf besteht, hat Rheinmetall mit dem Skyranger – einem 35mm-Fliegerabwehrgeschütz auf Boxer-Fahrgestell – eine Lösung im fortgeschrittenen Technologiestatus bereits im Portfolio.
Fachkreisen zufolge will das Ministerium bei der Erstbefähigung zu LVS NNbS, die im Aufgabenbereich der Luftwaffe liegt, möglichst auf marktverfügbare Systeme zurückgreifen. Erforderlich sind dafür etwa 500 neue Dienstposten und rund 1,3 Milliarden Euro ab dem kommenden Jahr. Allerdings kann das Vorhaben nach gegenwärtigem Stand voraussichtlich nicht umgesetzt werden, weil die Finanzierung fehlt.
Die seit längerem kursierenden Gerüchte, wonach sich die Bundeswehr bei der Erstbefähigung für NNbS für die beiden von Diehl produzierten Lenkflugkörper Iris-T SLM und Iris-T SLS entschieden hat, wurden heute bestätigt. Um die Raketen einsetzen zu können, ist ein Radar erforderlich, das bei einem möglichen Vertragsschluss Ende 2022 erworben werden soll. Das Gesamtsystem soll dann Ende 2025 einsatzreif sein. Die Firmen Airbus Defence and Space, Diehl und Hensoldt haben ein ähnliches Luftverteidigungspaket bereits an einen ausländischen Kunden verkauft. Gerüchten zufolge wollen die letzteren beiden Unternehmen zusammen mit Rheinmetall bei NNbS eng zusammenarbeiten und haben dazu offenbar eine Vereinbarung getroffen.
Der weitere Ausbau der Fähigkeiten zur Flug- und Drohnenabwehr soll in einem dritten Schritt mit der Folgebefähigung des NNbS erweitert und abgeschlossen werden. Dabei wird geplant, das die Drohnenabwehr spätestens ab dem Jahr 2030 qualitativ verbessert und das stationäre Flugabwehrsystem Mantis durch mobile Systeme ersetzt wird. Dafür veranschlagen die Planer einen zusätzlichen Finanzbedarf von bis zu vier Milliarden Euro und zusätzlich etwa 1.500 Dienstposten.
Das bis zum vergangenen Jahr vorangetriebene Taktische Luftverteidigungssystem (TLVS) wird von der Bundeswehr im Augenblick als nachrangig gegenüber dem Vorhaben NNbS eingestuft und steht nicht mehr im Fokus. TLVS könnte nach Einschätzung des Ministeriums frühestens ab dem Jahr 2031 als Nachfolgesystem für Patriot zur Verfügung stehen. Aufgrund der hohen mit TLVS verbundenen Kosten von etwa 13 Milliarden Euro scheint die Umsetzung im Licht der gegenwärtigen Budgetrestriktionen allerdings fraglich zu sein. Dessen ungeachtet will das BMVg die Raketenabwehr und die im Augenblick noch nicht realisierbare Abwehr von Hyperschallwaffen am dem Jahr 2030 sicherstellen.
Tobias Lindner, Verteidigungsexperte der Grünen im Bundestag, kritisiert die Darlegungen aus dem Ministerium zur Luftverteidigung: „Annegret Kramp-Karrenbauer bleibt eine Ministerin der wolkigen Ankündigungen statt der klaren Positionen. Nachdem sie über Monate hinweg eine Entscheidung über das Luftverteidigungssystem TLVS angekündigt hatte, gesteht sie nun zwar ein, dass das System auf Jahre hinweg nicht finanzierbar ist, vermeidet es aber erneut, einen klaren Schlussstrich zu ziehen“, so Lindner. Die Entscheidung müsse nun die künftige Bundesregierung treffen.
Die Ministerin habe es versäumt zu priorisieren und so ihren Handlungsspielraum selbstverschuldet verkleinert, bemängelt der Grünen-Politiker. „Es ist bezeichnend, dass auch ein neues Luftverteidigungssystem für den Nah- und Nächstbereich aktuell nicht finanziert ist, obwohl es nur einen Bruchteil der für TLVS veranschlagten Mittel benötigt.“ Der Schutz für die Truppe müsse oberste Priorität haben, fordert Lindner.
lah/12/23.3.21