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Erneutes Raketendrama: Was ist von dem jüngsten deutsch-ukrainischen Abkommen über Langstreckenwaffen zu halten?

Fabian Hoffmann

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Bundeskanzler Merz kündigte am 28. Mai während des Besuchs von Präsident Zelensky in Berlin an, dass Deutschland die Produktion von in der Ukraine hergestellten „Langstreckenwaffen“ finanzieren werde.

Später am selben Tag unterzeichneten der deutsche und der ukrainische Verteidigungsminister eine Absichtserklärung zur Formalisierung der Vereinbarung. In einer Presseerklärung des deutschen Verteidigungsministeriums heißt es dazu: „Die Verteidigungsminister von Deutschland und der Ukraine haben eine schriftliche Erklärung unterzeichnet, die die Finanzierung der Produktion von weitreichenden Waffen in der Ukraine vorsieht. Deutschland setzt damit seinen Plan um, künftig verstärkt direkt in die ukrainische Produktion zu investieren. So kann noch in diesem Jahr eine erhebliche Stückzahl von weitreichenden Waffen produziert werden. Die ersten dieser Systeme können in den ukrainischen Streitkräften bereits in wenigen Wochen zum Einsatz kommen. Sie sind bereits in den ukrainischen Streitkräften eingeführt. Es bedarf also keiner zusätzlichen Ausbildung.“

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Diese Episode ist die jüngste in einem scheinbar nicht enden wollenden Diskurs über die Lieferung von weitreichenden Waffensystemen Deutschlands an die Ukraine. In diesem Beitrag werden die potenziellen Auswirkungen der Abmachung und die möglichen nächsten Schritte untersucht.

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Was soll finanziert werden?

Die Ukraine stellt derzeit eine breite Palette von weitreichenden Waffensystemen her, darunter verschiedene Arten von Langstreckendrohnen und Marschflugkörpern. Sie entwickelt auch ballistische Kurz- und möglicherweise Mittelstreckenraketen, von denen allerdings noch nicht bekannt ist, dass sie in Serie produziert werden.

Nach Angaben einer gut informierten Quelle gegenüber dem Autor, wird sich die deutsche Finanzierung auf Waffensysteme mit einer Reichweite von 40 bis 200 km sowie auf Systeme mit größerer Reichweite konzentrieren. Aus einem Exklusivbericht der Zeitung „Die Welt“ geht hervor, dass die Ukraine Mittel für die Systeme BARS und AN-196 Liutyi beantragt hat. Die Unterstützung für diese Systeme wird sich Berichten zufolge auf 400 Millionen Euro belaufen.

Ukrainischen Quellen zufolge hat BARS eine Reichweite von 700 bis 800 km und teilt die wichtigsten Spezifikationen mit dem Mini-Marschflugkörper Pekklo, der hier bereits genauer vorgestellt wurde. Die AN-196 Liutyi – manchmal auch als ukrainische Shahed bezeichnet – ist eine Langstreckendrohne, die Berichten zufolge mit einem 75 kg schweren Sprengkopf ausgestattet ist und Ziele in einer Entfernung von bis zu 600 km treffen kann. Sie wird für mehrere erfolgreiche Angriffe auf russische Ölraffinerien verantwortlich gemacht.

Die deutsche Finanzierung wird wahrscheinlich sowohl den Ausbau der Produktionskapazitäten in ukrainischen Fabriken als auch die Beschaffung von Flugkörperkomponenten aus dem Ausland unterstützen. Ein Beispiel für Letzteres könnte das in Tschechien hergestellte AI-PBS-350-Turbojet-Triebwerk sein, das in der Langstreckendrohne Palianytsia verwendet wird. Eine höhere Finanzierung von Komponenten bedeutet letztlich, dass mehr komplette Systeme gebaut und geliefert werden können.

Es ist auch möglich, dass die Mittel dazu verwendet werden, die Produktion einiger „schwererer“ Raketenprojekte der Ukraine hochzufahren, die bislang nur schwer in Gang gekommen sind, darunter der Neptun-Marschflugkörper, der ursprünglich für die Bekämpfung von Schiffen entwickelt und später für den Einsatz gegen Landziele angepasst wurde und insbesondere für die Versenkung des Kreuzers Moskwa verantwortlich gemacht wird. Auch die Ukraine entwickelt offiziell mindestens eine ballistische Rakete, das ballistische Kurzstreckenraketensystem Hrim-2, das von deutscher finanzieller Unterstützung profitieren könnte.

Die finanzielle Unterstützung könnte theoretisch auch einen Technologietransfer von deutschen Raketenherstellern beinhalten, was jedoch unwahrscheinlich erscheint.

Zum einen sind ukrainische Technologien, ob im Inland entwickelt oder von außen bezogen, bereits auf die operativen Anforderungen der Ukraine zugeschnitten, während dies bei deutschen Systemen möglicherweise nicht der Fall ist. Zudem stellt sich die Frage, ob deutsche Unternehmen bereit wären, sich von ihrem geistigen Eigentum zu trennen, selbst wenn sie dafür vom Staat entschädigt würden.

Zweitens liegt der dringendste Bedarf der Ukraine wahrscheinlich im Bereich des Flugkörperantriebs, einem Bereich, in dem deutsche Firmen nur begrenzte Fachkenntnisse anbieten können. So stammt beispielsweise das Turbofan-Triebwerk des Marschflugkörpers Taurus KEPD 350 aus den Vereinigten Staaten, und deutsche Hersteller bauen keine Feststofftriebwerke für ballistische Raketen. Die Tatsache, dass deutsche Flugkörperhersteller bei Schlüsselkomponenten selbst von ausländischen Zulieferern abhängig sind, bedeutet auch, dass Deutschland nicht einfach die Taurus-Baupläne mit Kiew teilen und ukrainische Ingenieure den Marschflugkörper in der Ukraine bauen lassen könnte.

Bedeutet dies, dass der Taurus nicht ausgeliefert wird?

Die Zukunft der Taurus-Lieferungen bleibt ungewiss. Im Jahr 2025 ist der Bedarf an Taurus im Vergleich zu den früheren Kriegsjahren wohl geringer, obwohl es weiterhin gute Gründe für die Lieferung des Flugkörpers gibt.

Im Prinzip sollte die Ukraine nun in der Lage sein, etwa 80 bis 90 Prozent der relevanten russischen Ziele mit eigenen Langstreckenwaffen zu bekämpfen. Das bedeutet, dass die Ukraine – anders als zu Beginn des Krieges – nicht mehr auf westliche Hilfe angewiesen ist, um eine glaubwürdige Fähigkeit zum Angriff auf große Entfernungen zu realisieren.

Darüber hinaus bietet der Taurus zwar einen Reichweitenvorteil gegenüber dem Storm Shadow/SCALP-EG (700-800 km gegenüber 560 km), übertrifft aber nicht die Reichweite mehrerer ukrainischer Flugkörper- und Drohnensysteme (einschließlich dem BARS-Flugkörper/Drohne, die Berichten zufolge im Finanzierungspaket enthalten ist). Tatsächlich sind einige der ukrainischen Langstreckenwaffen deutlich weitreichender als der Taurus. Mit oder ohne Taurus-Lieferungen ist die Ukraine weiterhin in der Lage, die meisten hochwertigen russischen Ziele sowohl in operativer als auch in strategischer Tiefe zu bedrohen.

Es gibt jedoch Ziele, die ukrainische Systeme nur schwer wirksam treffen können, vor allem wegen der begrenzten Nutzlast. Die meisten ukrainischen Langstreckenflugkörper tragen relativ kleine Sprengköpfe – in der Regel zwischen 20 und 100 kg -, während der Taurus einen 450 kg schweren Multi-Effekt-Sprengkopf trägt, der eine primäre Hohlladung mit einem nachfolgenden Penetrator kombiniert. Dadurch ist der Taurus in der Lage, selbst stark gehärtete und tief vergrabene Ziele zu zerstören, die von den in der Ukraine gebauten Systemen nicht wirksam bekämpft werden können.

Darüber hinaus wäre der Schaden, den eine einzelne Taurus-Rakete an weichen Zielen wie Ölraffinerien anrichten würde, wesentlich größer und schwieriger zu beheben als der Schaden, den ein leichterer ukrainischer Marschflugkörper oder eine Drohne anrichtet.

Ferner ist der Taurus dank seines fortschrittlichen Zünders, der verschiedene Schichten und Hohlräume, die der Penetrator durchdringt, erkennen und zählen kann, in spezieller Weise für den Angriff auf Brückenziele geeignet. Dadurch kann der Gefechtskopf an der optimalen Stelle detonieren, um den Schaden zu maximieren – in der Regel nachdem er das Brückendeck durchdrungen hat (erste Schicht) und in einem Stützpfeiler explodiert (zweite Schicht). Wenn beispielsweise das Ziel darin besteht, die Kertsch-Brücke mit minimalem Flugkörpereinsatz zu zerstören, ist Taurus das fähigste System in den westlichen Arsenalen für diese Aufgabe.

Allerdings ist es auch wichtig, die Grenzen des Taurus-Flugkörpers anzuerkennen. Wie Storm Shadow und SCALP-EG ist er ein vergleichsweise altes System (wenn auch etwas moderner als seine britischen und französischen Gegenstücke). Die russische Flugabwehr, die in jüngster Zeit eine verbesserte Wirksamkeit gegen Storm Shadow und SCALP-EG unter Beweis gestellt hat, könnte auch gegen den Taurus eine passable Abfangquote erreichen. Darüber hinaus bleibt unklar, wie sich der deutsch-schwedische Flugkörper gegen die fortschrittlichen russischen Fähigkeiten zur elektronischen Kampfführung verhält.

In Verbindung mit der relativ begrenzten Anzahl von Taurus, die Deutschland bereitstellen könnte, ohne seine eigene Einsatzplanung zu sehr einzuschränken – wahrscheinlich zwischen 50 und 100 -, könnte die Gesamtwirkung recht begrenzt sein.

Insgesamt gibt es nach wie vor eine klare militärische Begründung für die Lieferung von Taurus im Jahr 2025, aber sie ist nicht mehr so überzeugend wie im Jahr 2022 oder 2023. Es ist verständlich, dass Zelensky immer noch Zugang zu dem Flugkörper haben möchte und dass die ukrainischen Streitkräfte ihn sicherlich annehmen würden, wenn er ihnen angeboten würde, obwohl er wahrscheinlich nicht mehr oberste Priorität genießt.

Außerdem ist zu bedenken, dass der Taurus-Marschflugkörper aufgrund der diesbezüglichen Tatenlosigkeit der Vorgängerregierung zunächst in ukrainische Flugzeuge integriert und das Personal geschult werden müsste. Dieser Prozess würde wahrscheinlich mindestens drei Monate, möglicherweise bis zu zwölf Monate dauern, wobei sechs Monate eine realistische Schätzung sind. Da Merz vor kurzem erklärt hat, dass keine weiteren Einzelheiten über den Umfang oder den Zeitpunkt künftiger Waffenlieferungen bekannt gegeben werden, würde ein Taurus-Transfer wahrscheinlich erst dann bekannt werden, wenn die Flugkörper in der Ukraine eintreffen (es sei denn, dies wird vorher geleakt). Dies ist in jedem Fall noch mehrere Monate entfernt.

Bedeutet dies, dass wir das Thema Taurus ad acta legen können?

Es wäre zwar schön, wenn das Kapitel der Taurus-Debatte endlich abgeschlossen werden könnte, aber so weit ist es leider noch nicht. Obwohl die militärischen Gründe für die Lieferung an Bedeutung verloren haben, sind die politischen Gründe so stark wie eh und je. Tatsächlich könnte Deutschland jetzt mehr von der Lieferung der Waffe profitieren als die Ukraine. Dafür gibt es zwei Gründe:

Erstens ist Taurus wohl das deutlichste Symbol für die deutsche Risikoaversion und Eskalationsangst geworden. Die Weigerung der Vorgängerregierung, das System auszuliefern, wobei sie diese Entscheidung auch noch ausdrücklich mit den russischen Nukleardrohungen in Verbindung brachte, hat die Wahrnehmung der deutschen Willenskraft untergraben und die Anfälligkeit der deutschen Gesellschaft für nukleare Erpressung deutlich gemacht.

Die derzeitige Regierung muss sich dringend mit dieser Wahrnehmung auseinandersetzen. Geschieht dies nicht, besteht die Gefahr, dass die Glaubwürdigkeit der deutschen und europäischen Abschreckung gegenüber Russland weiter ausgehöhlt wird, was das Risiko eines russischen Angriffs erhöhen könnte. Die Rücknahme der bisherigen Entscheidung und die Auslieferung des Taurus wäre ein notwendiger erster Schritt.

Zweitens ist die Glaubwürdigkeit der neuen Regierung, insbesondere die von Bundeskanzler Friedrich Merz selbst, unmittelbar mit der Lieferung von Taurus verbunden. Vor seinem Amtsantritt hat sich Merz stets für die Lieferung des Marschflugkörpers an die Ukraine ausgesprochen. Jetzt, da er an der Macht ist, würde eine Nichtbefolgung dieser Position seine Glaubwürdigkeit im Inland, in Europa und auf internationaler Ebene untergraben. Dies ist umso dringlicher, weil sein ungeschickt kommuniziertes Waffenstillstands-Ultimatum von vor zwei Wochen ohne erkennbare Konsequenzen für Russland abgelaufen ist.

Wenn Taurus letztendlich nicht geliefert wird, müsste Deutschland etwas von vergleichbarem politischen Gewicht anbieten. Eine Option könnte darin bestehen, das ukrainische Programm für ballistische Raketen finanziell und technisch – soweit möglich – erheblich zu unterstützen, um die Entwicklung und Produktion dieser wichtigen Fähigkeit zu beschleunigen. Ein solcher Schritt würde ein klares Signal aussenden, dass Deutschland nicht länger zulassen wird, dass russische Nukleardrohungen die Bedingungen seiner Unterstützung für ein Land diktieren, das sich gegen einen ungerechtfertigten Angriffskrieg verteidigt.

Wie bereits erwähnt, könnte diese Art der Unterstützung Teil des aktuellen Plans sein, aber es gibt keinen öffentlichen Hinweis darauf – zumindest noch nicht.

Autor: Fabian Hoffmann ist Doktorand am Oslo Nuclear Project an der Universität Oslo. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Verteidigungspolitik, Flugkörpertechnologie und Nuklearstrategie. Der aktualisierte Beitrag erschien erstmalig am 29.05.2025 in englischer Sprache im „Missile Matters“ Newsletter auf Substack.