In einem Beitrag vom 3. März schätzte der Autor die jährliche Produktionskapazität von MBDA Frankreich für SCALP-EG auf 50 bis 100 Flugkörper und die Kapazität von MBDA Deutschland für Taurus auf 40 bis 60 Flugkörper. Diese Zahlen wurden seither in mehreren Medien zitiert.
Obwohl es den Autor freut, dass seine Arbeit das Interesse von Journalisten und Analysten geweckt hat, die sich mit diesem Thema befassen, hält er es für wichtig, die eigenen Schätzungen kritisch zu hinterfragen. Nicht zuletzt, da die Zahlen auf begrenzten Daten beruhen. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, darzulegen, wie diese Zahlen abgeleitet wurden – sowohl um die Methodik nachvollziehbar zu machen als auch um sie für Kritik zu öffnen.
Sonderfall Europa
Im Vergleich zu den Flugkörperherstellern in anderen Teilen der Welt bleiben europäische Hersteller hinsichtlich ihrer Produktionskapazitäten weitgehend intransparent – eine Art Blackbox, was vor allem an der geringen Zahl veröffentlichter offizieller Daten liegt.
Demgegenüber sind US-amerikanische Flugkörperproduzenten sehr offen. So existieren beispielsweise detaillierte Informationen über die Ausweitung der JASSM-ER-Produktion durch Lockheed Martin in den letzten Jahren sowie über den stufenweisen Ausbau der Produktionskapazitäten. Generell gibt die US-Regierung eine bemerkenswerte Fülle an Daten zu Beständen, Preisen und Produktionsraten von Flugkörpern preis.
Russische Hersteller veröffentlichen solche Daten nicht, doch in den vergangenen Jahren hat der ukrainische Geheimdienst wiederholt eigene Schätzungen zur russischen Flugkörperproduktion veröffentlicht. Da diese Einschätzungen vermutlich auf mehreren hochwertigen Quellen beruhen und über unterschiedliche nachrichtendienstliche Kanäle verifiziert wurden, kann ihnen mit einem gewissen Vertrauen begegnet werden. Ähnliches gilt für China, wo das US-Verteidigungsministerium in seinen regelmäßig erscheinenden Berichten zu den militärischen und sicherheitspolitischen Entwicklungen in der Volksrepublik China Produktionszahlen für Flugkörper aufführt.
Für europäische Flugkörperhersteller gibt es jedoch in der Regel weder offizielle Zahlen noch öffentlich zugängliche nachrichtendienstliche Bewertungen. Dies macht es schwieriger, sich ein klares Bild von der Produktionsleistung zu machen.
Dennoch lassen sich aus öffentlich zugänglichen Daten nützliche Erkenntnisse gewinnen, insbesondere über den Auftragseingang und die Lieferfristen in der Vergangenheit. Im Folgenden wird erläutert, wie dies auf SCALP-EG und Taurus angewendet werden kann.
SCALP-EG Produktionskapazitäten
Für SCALP-EG liegen unterschiedliche Daten zum Auftragseingang und zu den Lieferfristen vor, die zwar bruchstückhaft sind, aber dennoch Rückschlüsse zulassen. Diese sind in dieser Quelle übersichtlich zusammengefasst, werden aber durch mehrere anderen offenen Quellen bestätigt (auch wenn Unsicherheiten bleiben):
- Im Jahr 1997 bestellte Frankreich 500 SCALP-EG- Flugkörper. Das System wurde 2004 in Betrieb genommen.
- Ebenfalls 1997 bestellten die Vereinigten Arabischen Emirate 600 Black Shaheen-Flugkörper (eine reichweitenbeschränkte Variante des SCALP-EG). Die Lieferung erfolgte laut Berichten ab 2003, die Inbetriebnahme ab 2007.
- Italien bestellte 1999 200 SCALP-EG/Storm Shadow-Flugkörper, die um 2006 einsatzbereit waren.
Zu bedenken ist, dass das Erreichen der anfänglichen Einsatzfähigkeit nicht zwangsläufig bedeutet, dass zu diesem Zeitpunkt die gesamte Bestellung ausgeliefert wurde. Vielmehr bedeutet es, dass eine erste Charge geliefert wurde, die für Testabschüsse und Qualifikationsversuche ausreichte. Das scheint in diesem Fall zutreffend zu sein.
Dennoch lässt sich annehmen, dass die Produktionskapazität für SCALP-EG in der ersten Hälfte der 2000er Jahre bei über 100 Flugkörpern jährlich lag, um die genannten Lieferfristen einhalten zu können, zumal 2000 auch eine zusätzliche Bestellung Griechenlands in unbekannter Stückzahl erfolgte. Wahrscheinlich lag die Produktionskapazität in einer Größenordnung von 100 bis 150 Flugkörpern pro Jahr, möglicherweise sogar darüber, wenn man von einer Phase maximaler Effizienz in der Produktions- und Lieferkette ausgeht.
Seitdem ist der Auftragseingang jedoch deutlich zurückgegangen. Nach längerer Pause erhielt Frankreich Folgeaufträge aus Katar (2014), Indien (2015) und Ägypten (2015), doch dürfte das Gesamtvolumen dieser Bestellungen 500 Flugkörper nicht überschreiten.
Daher ist es höchst unwahrscheinlich, dass die Aufrechterhaltung des Spitzenproduktionsniveaus zwischen den frühen 2000er Jahren und 2022 wirtschaftlich tragfähig gewesen wäre.
Es ist plausibel anzunehmen, dass MBDA Frankreich in diesem Zeitraum eine minimal rentable Produktionslinie unterhielt, mit einem geschätzten Ausstoß von 50 bis 100 Flugkörpern pro Jahr, wobei die tatsächliche Zahl wahrscheinlich eher am unteren Ende dieser Spanne lag.
Seit 2022 hat Frankreich neue Aufträge für SCALP-EG erteilt, und MBDA Frankreich hat angekündigt, die Produktionskapazitäten auszuweiten – was sehr wahrscheinlich auch SCALP-EG betrifft. Die plausibelste Interpretation ist jedoch, dass die Kapazität wieder in Richtung der Marke von 100 Flugkörpern pro Jahr angehoben wird. Da bislang keine neuen Produktionsanlagen öffentlich bekannt gegeben wurden, dürfte dieser Ausbau innerhalb der bestehenden Infrastruktur erfolgen.
Produktionskapazitäten des Taurus KEPD 350
Die gleiche Methode kann auch zur Abschätzung der Produktionskapazitäten für den Taurus-Marschflugkörper herangezogen werden. Grundlage bilden öffentlich zugängliche Informationen zu Auftragseingängen und Lieferfristen von Taurus Systems GmbH, einem Gemeinschaftsunternehmen von MBDA Deutschland und Saab. Die folgenden Open-Source-Datenpunkte sind von Nutzen:
- Deutschland bestellte im August 2002 insgesamt 600 Taurus-Flugkörper. Die ersten Einheiten wurden 2005 ausgeliefert, die letzten im November 2010.
- Spanien bestellte im Juni 2005 43 Flugkörper, deren Auslieferung bis Dezember 2010 erfolgte.
- Südkorea bestellte im November 2013 insgesamt 177 Taurus-Flugkörper, die zwischen 2016 und 2017 geliefert wurden.
- Ein zweiter südkoreanischer Auftrag wurde im Februar 2018 erteilt, mit einer voraussichtlichen Auslieferung zwischen Ende 2018 und Mitte 2020.
Diese Zahlen deuten darauf hin, dass MBDA Deutschland und Saab während der aktiven Produktionsphase von Taurus jährlich zwischen 50 und 100 Flugkörper herstellten. Bemerkenswert ist, dass es nach dem Abschluss des spanischen Auftrags im Dezember 2010 über zwei Jahre dauerte, bis die Produktion wieder aufgenommen wurde und Lieferungen an Südkorea 2013 begannen.
Ein weiterer Punkt ist, dass Spanien zwar lediglich 43 Taurus-Flugkörper bestellte, deren Auslieferung sich jedoch über mehr als fünf Jahre erstreckte. Dies legt nahe, dass die Produktionslinie zum Zeitpunkt des spanischen Einstiegs ins Programm bereits an ihrer Kapazitätsgrenze arbeitete.
Wie bei MBDA Frankreich gibt es auch bei MBDA Deutschland und Saab keine Hinweise auf neue Produktionsanlagen seit 2022. Das bedeutet, dass eine Wiederaufnahme der Produktion auf bestehender Infrastruktur beruhen würde. Anders als bei SCALP-EG, wo eine gewisse Kontinuität in der Fertigung vermutet werden kann, ruht die Taurus-Produktion derzeit vollständig. Eine Wiederaufnahme würde daher mehrere Jahre benötigen, wobei die anfängliche Produktionsrate eher im Bereich von 50 als von 100 Flugkörpern pro Jahr liegen dürfte.
Allerdings ist es wichtig anzumerken, dass die anfängliche Produktionskapazität auch von der Zahlungsbereitschaft des Kunden abhängt. Je größer das anfängliche Auftragsvolumen und je höher der Stückpreis, den der Kunde zu akzeptieren bereit ist, desto leichter fällt es dem Hersteller, eine robuste Lieferkette wieder aufzubauen und zügig eine leistungsfähige Produktionslinie hochzufahren.
Schlussfolgerung
Diese Ausführungen geben hoffentlich Aufschluss darüber, wie der Autor zu seinen Schätzungen gelangt ist.
Aus militärisch-industrieller Sicht sind diese Zahlen zweifellos ernüchternd. Europa muss die Flugkörperproduktion dringend und nachhaltig hochfahren – eine Aufgabe, die sich nur über mehrere Jahre hinweg realisieren lässt. Je länger Europa damit zögert, desto prekärer wird die sicherheitspolitische Lage. Angesichts der Tatsache, dass Russland sich einer jährlichen Produktionskapazität von rund 2.000 Marschflugkörpern und ballistischen Raketen annähert, steigert jede weitere Verzögerung lediglich Europas Verwundbarkeit.
Autor: Fabian Hoffmann ist Doktorand am Oslo Nuclear Project an der Universität Oslo. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Verteidigungspolitik, Flugkörpertechnologie und Nuklearstrategie. Der Beitrag erschien erstmalig am 30.03.2025 in englischer Sprache im „Missile Matters“ Newsletter auf Substack.