Nach dem 11. September 2001 bildeten die zahlreichen Spezialkräfteverbände der US-Streitkräfte die Speerspitze des US-geführten „Global War on Terror“. Die Kommandosoldaten waren das Mittel der Wahl zur Terroristen- und Aufstandsbekämpfung weltweit, was auch deren Ausbildung und Ausstattung prägte. Die Neuorientierung der US-Streitkräfte auf die sogenannte Great Power Competition – dem Wettkampf der Großmächte – mit Ausrichtung auf potenzielle Konflikte mit Russland, China oder Staaten mit vergleichbarem Bedrohungspotenzial erfordert auch eine Neuausrichtung der US-Spezialkräfteverbände.
Standen bei der Terroristen- und Aufstandsbekämpfung noch Kampfeinsätze gegen Ziele strategischer und/oder operativer Bedeutung (Direct Action) sowie offensive Maßnahmen zur Abwehr terroristischer Bedrohung und Kampf gegen subversive Kräfte (Counterterrorism bzw. Counterinsurgency) im Fokus, erfordert der Spezialkräfteeinsatz im Rahmen der Bündnisverteidigung – geprägt durch weitläufige und großangelegte Gefechtsoperationen – andere Mittel und Fähigkeiten des Spezialkräftewerkzeugkastens. Spezialkräfte stellen hier weniger die Speerspitze der kriegsführenden Streitmacht als vielmehr den „Türöffner“ oder „Möglichmacher“ für den großangelegten Einsatz regulärer Truppen in Konflikten hoher Intensität (large-scale combat operation oder LSCO) dar. Vorne mit dabei: die Special Forces der U.S. Army – auch bekannt unter dem Namen „Green Berets“.
Wo klassische Luftlandeverbände als sogenannte Kräfte der ersten Stunde gelten, gehören die Green Berets seit jeher zu dem Kräftedispositiv, das eingesetzt wird, bevor die eigentliche Zeitrechnung des Krieges beginnt. Sie wurden vor 72 Jahren ursprünglich mit dem Ziel aufgestellt, unkonventionelle Kriegsführung (Unconventional Warfare) zur Unterstützung der regulären Streitkräfte sowie irregulärer Truppen verbündeter Nationen und Mächte zu betreiben. Nach rund 20 Jahren Global War on Terror könnte nun genau diese Fähigkeit wieder in den Fokus rücken.
Wie aus einem am 9. August 2024 veröffentlichten Beitrag auf der Webseite des „Modern War Institute“ von West Point – Offizierschule der U.S. Army – hervorgeht, hat das Joint Readiness Training Center (JRTC) im Zeitraum 25. März bis 20. April 2024 erstmalig einen Spezialkräftedurchgang durchgeführt. Der Name des Beitrages lautet „Winning the First Fight: Experimenting with Army Special Operations Forces’ Contributions in Large-Scale Combat Operations“.
Als Lage diente eine vom U.S. Army Training and Doctrine Command erarbeitete Übungslage, die auf dem operativen Umfeld der indopazifischen Region basiert. In dieser Lage sind die USA mit einer als Süd-Torbia bezeichneten Nation verbündet, die von Nord-Torbia bedroht wird.
Beteiligt waren Kräfte folgender Spezialkräfteverbände und -einheiten der U.S. Army:
- 75th Ranger Regiment
- 160th Special Operations Aviation Regiment
- 98th Civil Affairs Company
- 1st Psychological Operations Battalions
- 7th Special Forces Group
Den Autoren des Beitrages zufolge – allesamt Offiziere der 7th Special Forces Group (Airborne) mit Verantwortungsbereich Zentral- und Lateinamerika sowie Karibik – hat der JRTC-Durchgang eine validen Weg aufgezeigt, wie Spezialkräfte der US-Heeres zum Erfolg in streitkräftegemeinsamen LSCO beitragen können. Wenn auch darauf verwiesen wird, dass die gewonnen Erkenntnisse nicht abschließender Natur sind und noch weitere Untersuchungen unerlässlich sind.
Wie die Autoren schreiben, bildeten die oben aufgeführten Spezialkräftegruppierungen einen gemeinsamen Spezialkräfteeinsatzverband (CJSOTF). Der Einsatzverband zielte speziell auf kritische Schwachstellen der gegnerischen C5ISRT-Struktur (Command, Control, Computing, Communications, Cyber, Intelligence, Surveillance, Reconnaissance und Targeting) tief im Verantwortungsbereich des Korps und an der Peripherie ab, um die Voraussetzungen für den Einsatz einer konventionellen Luftlandedivision zu schaffen. „Letztlich zeigte die Erfahrung, welche einzigartigen Fähigkeiten Spezialkräfte in einem LSCO-Kontext einbringen können, einschließlich der Entwicklung von Widerstandskräften und der Verbesserung der Widerstandsfähigkeit von Partnertruppen, der Durchführung von Aufklärungseinsätzen in der Tiefe und in verschlossenen Gebieten, der Ermöglichung des Wirkens in der Tiefe, der Durchführung von Manövern in der Tiefe von irregulären Partnertruppen sowie der Erlangung, Aufrechterhaltung und Nutzung von Informationsvorteilen“, schreiben die Autoren. „Die langfristigen Kampagnen der Heeresspezialkräfte zur irregulären Kriegsführung ermöglichen Zugang und Einfluss durch dauerhafte Präsenz und langfristige Partnerschaften. Richtig eingesetzt, können dieser Zugang und Einfluss relative Vorteile erzeugen und die Voraussetzungen für einen Sieg in einem Konflikt schaffen“, heißt es in dem Beitrag weiter.
Ablauf der Übung
Bei der Beschreibung der Übung beschränken sich die Autoren ausschließlich darauf die Rolle und die Aufgaben der Green Berets darzustellen. Der Operationsplan des CJSOTF-Spezialkräfteverbandes sah vier Phasen vor.
Phase 1
In der ersten Phase sollte Elemente der Special Forces bereits im Vorfeld des Konfliktes regelmäßig nach Süd-Torbia entsandt werden, um dort die Fähigkeiten der süd-torbischen Partnerkräfte aufzubauen und Beziehungen zu knüpfen. Mittels dieser Maßnahme sollte die Voraussetzung für den späteren Einsatz der Spezialkräfte im Land geschaffen werden. Dazu sollten SFOD-As als auch die SFOD-Gs eine „menschliche und physische Infrastruktur“ vor Ort aufbauen.
„So beauftragte der Befehlshaber die SFOD-Gs mit der Entwicklung einer menschlichen und digitalen Infrastruktur mit spezifischen Fähigkeiten, die in Krisen- und Konfliktsituationen eingesetzt werden können, um die operative Reichweite der CJSOTF zu vergrößern, Informationen zu sammeln und operative Unterstützung zu leisten“, heißt es in dem Beitrag. Die SFOD-As hingegen sollten Versorgungsverstecke anlegen und eine Infrastruktur aufbauen, um sich im Falle eines Konfliktes unbemerkt von den nord-torbischen Streitkräften überrollen zu lassen.
Einschub Struktur einer Special Forces Group Die 7th Special Forces Group (7th SFG) ist eine von insgesamt sieben SFGs des 1st Special Forces Command (Airborne) der U.S. Army, zwei der sieben Verbände gehören zur Nationalgarde. Die 7th SFG setzt sich, genauso wie die anderen SFGs, aus vier Bataillonen zusammen, welche über je ein Führungselement sowie drei Einsatzkompanien und eine Unterstützungskompanie verfügen. Die Struktur einer Einsatzkompanie ist in ein Führungs- (Special Forces Operational Detachment Bravo – SFOD-B) und sechs Einsatzelemente (Special Forces Operational Detachment Alpha – SFOD-A) gegliedert. Das SFOD- oder kurz OD-A bildet das kleinste Einsatzelement der Special Forces. Die aktuelle Struktur eines OD-A setzt sich aus zwölf Spezialisten zusammen. Die Führung eines OD A obliegt einem Hauptmann. Die OD-A sind insbesondere darauf ausgerichtet, im Zuge von Military Assistance Missionen im Verbund mit Gruppierungen verbündeter und befreundeter Streitkräfte zu operieren. Dies gilt sowohl für die Ertüchtigung einzelner Verbände als auch für die Begleitung von verbündeten Truppen im Gefecht. Das vierte Bataillon – genauso wie bei den anderen sechs Special Forces Groups – stellt eine kleine Besonderheit dar, von der bisher nur wenige Informationen an die Öffentlichkeit gedrungen sind. Die Einsatzkompanien des vierten Bataillons verfügen über sogenannte Special Forces Operational Detachment Golf – SFOD-G. Dabei handelt es sich dem Vernehmen nach um Einsatzelemente mit besonderes erfahrenem Personal die in der Lage sind, mit einem noch geringeren logistischen Fußabdruck und in kleineren Teams zu operieren, als es die OD-As vermögen. Die Kernbefähigung der SFOD-G liegt im Aufbau und Unterstützung von Widerstandsbewegungen.
Phase 2
In der zweiten Phase der Übung, dem Übergang von Krise in den Konflikt, entschied sich der Befehlshaber des US-Spezialkräfteverbandes die OD-A Elemente im Land zu belassen und diese nicht abzuziehen. Gleichzeitig wurde der Entschluss getroffen die OD-As nicht zur Unterstützung der Verzögerungsgefechte der süd-torbischen Partnerstreitkräfte einzusetzen, sondern sich vom Feind überrollen zu lassen, um so im feindlichen Hinterland operieren zu können.
Dies hat den Vorteil, dass die Special Forces so unbemerkt in den späteren Einsatzraum „verbracht“ werden konnten. Die Alternative wäre eine Infiltration in den Einsatzraum im laufenden Krieg, was ein deutlich höheres Risiko der Entdeckung birgt. Gleichzeitig besteht aber das Risiko, dass die überrollten Kräfte im Falle eines Missionsabbruchs nicht ohne weiteres Risiko exfiltriert werden können.
Phase 3
Einmal überrollt, wurden die SFOD-A Elemente unter andrem mit dem Gewinnen von Schlüsselinformationen für die strategische und operative Führungsebene (Spezialaufklärung bzw. Special Reconnaissance) betraut.
So schreiben die Autoren, dass die „menschliche und physische Infrastruktur, die die SFOD-As und SFOD-Gs im Vorfeld durch die operative Vorbereitung des Operationsumfelds aufgebaut hatten, die Teams nun unterstützte und es ihnen ermöglichte, sich im Kampfgebiet zu bewegen und zu manövrieren, medizinische Hilfe zu leisten, Aufklärungsarbeit zu leisten und hochrangige Ziele zu bekämpfen“.
Die Aufklärungsarbeit im Hinterland führte unter anderem dazu, dass die Absicht des Feindes erkannt und für den Missionserfolg der Luftlandekräfte kritische Feindgruppierungen sowie deren kritische Einsatzfaktoren aufgeklärt werden konnten. Zudem konnten Zieldaten für den Einsatz weitreichender Waffensysteme generiert werden.
Phase 4
In der letzten Phase der Übung führten die Special Forces Elemente, teilweise auch in Zusammenarbeit mit den Widerstandskräften und Streitkräften der Partnernation, synchronisierte Operationen gegen einsatzwichtige Elemente und Einrichtungen des Feindes aus, um die Voraussetzung für den Einsatz der US-Luftlandekräfte zu schaffen.
In einem ersten Schritt wurde der Fokus auf die feindlichen Einsatzunterstützung gelegt, um den Feind die Versorgung mit Munition, Treibstoff und Ersatzteilen abzuschneiden. Dies hat entscheidend dazu beigetragen, dass die feindliche Offensive nicht weiter aufrechterhalten werden konnte.
Nach der Unterbrechung der gegnerischen Versorgung konzentrierte sich der Spezialkräfteeinsatz auf die verbleibenden Flugabwehr-, Führungs- und Feuerunterstützungsfähigkeiten des Feindes. Das Bekämpfen dieser Fähigkeiten sollte die Voraussetzung für einen luftmechanisierten Angriff gegen feindliche Panzerverbände sowie einen Einsatz von Luftlandekräften schaffen.
Gewonnene Erkenntnisse
Wie bereits eingangs erwähnt berichten die Autoren, dass im Rahmen des Übungsdurchganges wichtige Erkenntnisse gewonnen wurden, „die ohne Zweifel Innovationen im United States Special Operations Command und in der gesamten U.S. Army vorantreiben werden“, so die Autoren. Gleichwohl berichten die Angehörigen der 7th Special Forces Group, dass im Rahmen der Übung auch Chancen verpasst wurden.
Das Hauptaugenmerk der Kritik bezieht sich auf den Umstand, dass in dem Übungsdurchgang ausschließlich Spezialkräfte beübt wurden. Dies hätte zur Folge, dass keine Integration zwischen Spezialkräften und regulärer Truppe erfolgen konnte, weder im physischen noch technischen Umfeld oder auf der Beziehungsebene.
Genau hier sehen die Autoren aber einen Schlüsselfaktor für das Gelingen von Gefechtsoperation im Rahmen von Konflikten mit hoher Intensität. Im Gegensatz zum War on Terror werden die Spezialkräfteverbände hier im Verbund mit regulärer Truppe eingesetzt werden und nicht eigene losgelöste Operationen durchführen. Damit dies gelingt, müsse die jeweilige Seite Verständnis für die Operationsführung der anderen Seite entwickeln und miteinander kommunizieren können. Daher wird vorgeschlagen, bei jeglichen Übungsdurchgängen einen Spezialkräfteanteil zu etablieren, so dass so Kohäsion stattfinden kann und wichtige Beziehungen zwischen beiden Welten – Spezialkräfte und reguläre Truppe – geknüpft werden können.
Kurze Bewertung
Dass die US-Spezialkräfte – vielen verbündeten Nationen wird es ähnlich ergehen – verbunden mit dem Fokus auf die Terrorismusbekämpfung viele Fähigkeiten des Spezialkräfteeinsatzes in Konflikten mit hoher Intensität vernachlässigt bzw. nicht weiterentwickelt haben, ist bereits seit mehreren Jahren bekannt und wird im Rahmen der damit befassten Kreise rege diskutiert. Es überrascht auch nicht, dass gerade die US-Streitkräfte mit der Verlagerung des Fokus auf LSCO die eigenen Spezialkräftefähigkeiten mit Nachdruck in die gleiche Richtung zu entwickeln versuchen.
Bemerkenswert – zumindest aus deutscher Perspektive – ist hingegen, wie experimentierfreudig sie dabei vorgehen und auch nicht davor scheuen, theoretische Konzepte in großen Übungen – in einem möglichst realitätsnahen Umfeld – zu evaluieren sowie öffentlich darüber zu kommunizieren. Gründe dafür liegen vermutlich in der Größe der US-Spezialkräfte sowie dem Umgang der Vereinigten Staaten mit dem strategischen Hochwertinstrument.
So umfasst die Stärke des United States Special Operations Command sowie der darunter zusammengefassten spezialisierten Kräfte und Spezialkräfte aller US-Teilstreitkräfte rund 70.000 Soldatinnen und Soldaten. Zum Vergleich: Das Deutsche Heer weist nur etwa 60.000 Dienststellen auf. Allein das United States Army Special Operations Command, dem nur die spezialisierten Kräfte sowie Spezialkräfte des US-Heeres unterstellt sind, verfügt über eine Kopfstärke von ca. 32.500 Soldatinnen und Soldaten.
Diese schiere Größe der Spezialtruppen macht es möglich, größere Kräftegruppierungen für das Testen neuer Konzepte abzustellen, ohne dass sonstige „Daueraufgaben“ – wie beispielsweise die weltweite Terroristenbekämpfung – vernachlässigt werden müssen.
Gleichermaßen entscheidend ist sicherlich das Selbstverständnis der Vereinigten Staaten im Einsatz von Spezialkräften. Diese werden dort seit jeher als aktives Element US-amerikanischer Außen- und Sicherheitspolitik eingesetzt, nicht nur im Krieg, sondern insbesondere auch im Konfliktfall sowie im Frieden. Was aus deutscher Perspektive vollkommen undenkbar wäre, gehört in den USA zum Kernaufgabengebiet von US-Spezialkräften, nämlich die Vorbereitung sowie die Ausübung unkonventioneller Kriegsführung. Wozu wohl auch die Kommunikation über den angesprochenen Übungsdurchgang gezählt werden kann.
Potenzielle Gegner und mögliche Feinde der USA sollen über die groben Möglichkeiten und Fähigkeiten der US-Spezialkräfte wissen. Allein dies schreckt ab, da ein potenzieller Aggressor im Kerninteressenbereich der USA ahnen soll, was im in Falle eines Überfalls auf einen US-Verbündeten blühen würde. Bereits diese Informationsarbeit erzielt so eine strategische Wirkung.
Waldemar Geiger