Am 29. August 2022 gab Bundeskanzler Olaf Scholz erstmals seine Absicht bekannt, das israelische Raketenabwehrsystem Arrow 3 zu beschaffen. Zunächst fand die Ankündigung nur wenig Beachtung. Dies änderte sich jedoch im Sommer 2023, als der Haushaltsausschuss des Bundestages den Kauf für knapp 4 Milliarden Euro genehmigte.
Die Hauptkritik an dem Raketenabwehrsystem konzentrierte sich auf seinen begrenzten Nutzen gegen die unmittelbaren russischen Bedrohungen. Dies war auf die große Einsatzhöhe des Systems zurückzuführen, das für das Abfangen ballistischer Mittelstreckenraketen optimiert ist – Fähigkeiten, von denen zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt war, dass sie Teil des russischen Raketenarsenals sind.
In der Nacht vom 20. auf den 21. November präsentierte Russland jedoch bei einem Angriff auf die ukrainische Stadt Dnipro eine neue ballistische Rakete namens Oreshnik, die wahrscheinlich in das Spektrum der Mittelstreckenraketen fällt. Sind angesichts dieser Entwicklungen die Kritiker verstummt, und hat die Bundeswehr nicht doch das richtige Raketenabwehrsystem beschafft?
Arrow 3
Das israelische ballistische Raketenabwehrsystem Arrow 3, das gemeinsam von Israeli Aerospace und Boeing entwickelt wurde, ist seit 2017 im Einsatz.
Es kann sowohl Abfangraketen des Typs Arrow 2 als auch des Typs Arrow 3 verschießen, wobei bekannt ist, dass Deutschland nur Abfangraketen des Typs Arrow 3 beschafft hat. Der Arrow-3-Interceptor ist ein zweistufiges Feststoffsystem, das ankommende Bedrohungen außerhalb der Atmosphäre bekämpft, indem es ein „Hit-to-kill“-Vehicle in das Zielobjekt lenkt.
Arrow 3 fängt Bedrohungen in Höhen von mehr als 100 km ab, wobei der genaue Wirkungsbereich geheim bleibt. Es kann keine Ziele innerhalb der Atmosphäre bekämpfen, da die empfindlichen Sensoren und die Elektronik des kinetischen Kill-Vehicles der atmosphärischen Reibung während des endoatmosphärischen Flugs nicht standhalten können. Aus diesem Grund ist Arrow 3 für das Abfangen von ballistischen Kurzstreckenraketen ungeeignet, die oft den größten Teil oder manchmal sogar den gesamten Flug über in der Atmosphäre bleiben.
Das deutsche Arrow-3-System wird mit dem Radar EL/M 2084 „Super Green Pine“ ausgestattet sein, das ankommende ballistische Flugkörper mit einer Reichweite von mehreren hundert Kilometern erkennt und verfolgt. Das Radar liefert dem Interceptor auch eine „Midcourse Guidance“ sowie Flugbahn- und Auftreffpunktvorhersagen für das ankommende Geschoss.
Deutschland hat insgesamt drei Arrow-3-Batterien bestellt. Jede Batterie besteht aus vier Abschussvorrichtungen, wobei jede Abschussvorrichtung sechs abschussbereite Arrow-3-Raketen trägt, also insgesamt 24 abschussbereite Raketen pro Batterie. Mit den drei Batterien wird Deutschland über 72 Raketen verfügen, die für den unmittelbaren Einsatz vorgesehen sind, bevor sie nachgeladen werden müssen. Die genaue Anzahl der von Deutschland beschafften Arrow-3-Abfangraketen ist unklar, eine grobe Schätzung geht jedoch von 150 bis 250 Stück aus.
Oreshnik
Anders als die ballistische Iskander-M Kurzstreckenrakete 9M723 oder die aeroballistische Kh-47M2 Kinzhal liegt die neue Bedrohung durch die ballistische Mittelstreckenrakete Oreshnik innerhalb des Wirkungsbereichs des Arrow-3-Systems. Es ist jedoch unklar, wie gut Arrow 3 für die spezifische Art der Bedrohung durch Oreshnik optimiert ist.
Arrow 3 wurde ursprünglich zur Abwehr von ballistischen Mittelstreckenraketen entwickelt, die typischerweise vom Iran und seinen nichtstaatlichen Verbündeten in der Region abgeschossen werden und eine Reichweite von etwa 2.000 bis 3.000 km haben. Die maximale Reichweite von Oreshnik ist wahrscheinlich um einiges höher – möglicherweise 5.000 km oder mehr –, vor allem wenn die Rakete mit einer reduzierten Nutzlast ausgestattet ist.
Bei ihrem jüngsten Angriff demonstrierte Oreshnik auch die Fähigkeit, einer erhöhten Flugbahn zu folgen, was zu einem steileren Winkel und einem deutlich höheren Apogäum führt. Ermöglicht wurde dies durch die relativ geringe Entfernung zwischen dem 800 km vom Ziel entfernten Startplatz der Rakete, so dass sie einen erheblichen Teil ihrer Energie in den vertikalen Aufstieg und nicht in die horizontale Reichweite umsetzen konnte.
Würde Oreshnik Ziele tiefer in Mittel- oder Westeuropa, auch in Deutschland, treffen, würde die Rakete eine flachere Flugbahn verfolgen. Es besteht jedoch die Möglichkeit, dass sich der Flugkörper aus größeren Höhen nähern würde als die, für die Arrow 3 optimiert ist.
Das bedeutet nicht, dass Arrow 3 unbrauchbar wäre – im Gegenteil. Allerdings können Flugbahnen mit hohem Apogäum die Rakete aus dem Erfassungsbereich von Radaren bringen, die für Bedrohungen in niedrigeren Höhen optimiert sind, wie z. B. das „Super Green Pine“-Radar von Arrow 3. Dadurch können Lücken in der Verfolgung entstehen, während derer nur begrenzte Daten über die Flugbahn der Rakete verfügbar sind. Mit der Zeit können diese Lücken in der Verfolgung die Fähigkeit des Radars zur Vorhersage der Flugbahn und des Auftreffpunkts des Geschosses beeinträchtigen, was letztlich die Wahrscheinlichkeit eines erfolgreichen Abfangens verringert.
Dies ist übrigens auch der Grund, warum man die behauptete Fähigkeit von Arrow 3 zur Abwehr von Interkontinentalraketen skeptisch betrachten sollte, denn die Hard- und Software des Systems ist einfach nicht für Bedrohungen im Interkontinentalbereich optimiert.
Zahlenspiel
Selbst wenn das Arrow-3-System voll und ganz in der Lage ist, die von Oreshnik ausgehende Bedrohung durch ballistische Raketen abzuwehren, könnte man sich immer noch fragen, ob es sich überhaupt lohnt, auf diese Bedrohung zu reagieren.
Erstens ist die Anzahl der Oreshnik-Raketen, die Russland theoretisch einsetzen kann, zumindest im Moment sehr begrenzt und hängt von den Beständen an RS-26-Rubezh-Raketen aus der Frühproduktion ab, auf denen die Oreshnik basiert. Es ist unwahrscheinlich, dass dieser Vorrat mehr als 20 bis 30 Stück umfasst.
Eine Neuproduktion von Oreshnik-Raketen kann nicht ausgeschlossen werden, erscheint jedoch aktuell unwahrscheinlich. Die Oreshnik verwendet die gleichen Booster-Triebwerke wie die Interkontinentalrakete RS-24 Yars. Würde Russland die Produktion auf Oreshnik umstellen, hätte dies direkte Auswirkungen auf die Herstellung und Aufrechterhaltung russischer Interkontinentalfähigkeiten – ein Schritt, den sich Russland vermutlich nicht leisten kann.
Zweitens ist die Wirksamkeit der Oreshnik-Sprengköpfe aufgrund der Ungenauigkeit der Rakete und ihrer inerten Nutzlast begrenzt. Es ist unwahrscheinlich, dass die Oreshnik wichtigen Zielen kritischen Schaden zufügt, es sei denn, Russland gelingt ein Glückstreffer.
Drittens ist die Wirksamkeit der Oreshnik zwar begrenzt, aber ihre MIRV-Fähigkeit führt zu einer großen Anzahl von Geschossen – sechs pro Rakete –, die theoretisch bekämpft werden müssten, wenn die Entscheidung getroffen wird, auf eine ankommende Oreshnik-Bedrohung zu reagieren. Dies könnte den deutschen Bestand an Arrow-3-Abfangraketen schnell aufbrauchen.
Alles in allem spricht einiges dafür, die Oreshnik-Bedrohung dementsprechend zu ignorieren und die Arrow-3- Abfangraketen für Ziele mit höherer Priorität zu reservieren. Dies wirft jedoch die Frage auf, welche Ziele für Russlands Arsenal von höherer Priorität sein könnten. Russland verfügt derzeit nicht über hochwirksame ballistische Mittelstreckenraketen.
Ermessensentscheidung
Letztendlich ist die Beschaffung von Arrow 3 wahrscheinlich eine Ermessensentscheidung der deutschen Entscheidungsträger: Setzt man Prioritäten bei bestehenden Bedrohungen oder sichert man sich gegen mögliche zukünftige Bedrohungen ab?
Alles in allem stellt die Oreshnik allein wahrscheinlich noch keine ausreichende Bedrohung dar, um die enormen Investitionen in Arrow 3 zu rechtfertigen, insbesondere unter Berücksichtigung der Opportunitätskosten. Das bedeutet jedoch nicht, dass eine solche Bedrohung in Zukunft ausgeschlossen ist. Es gibt Gerüchte, dass Russland an einer Mittelstreckenversion der 9M723 Iskander-M arbeitet. Sollte diese Fähigkeit entwickelt werden und die ballistische Rakete ihre in der Ukraine demonstrierte Präzision und Wirkungskraft beibehalten, würde Russland tatsächlich über ein relevantes Bedrohungspotenzial im ballistischen Mittelstreckenbereich verfügen.
Ob ein solches Programm realisiert wird, hängt vermutlich auch davon ab, ob Russland den Krieg relativ unversehrt übersteht und genügend Kapazitäten hat, um neue Raketenentwicklungsprogramme durchzuführen und die Produktion auszuweiten. Derzeit gibt es weitaus akutere Bedrohungen durch andere Waffen aus Russlands Raketenarsenal, die dringende Aufmerksamkeit erfordern.
Autor: Fabian Hoffmann ist Doktorand am Oslo Nuclear Project an der Universität Oslo. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Verteidigungspolitik, Flugkörpertechnologie und Nuklearstrategie. Der Beitrag erschien erstmalig am 8.12.2024 in englischer Sprache im „Missile Matters“ Newsletter auf Substack wurde jedoch aktualisiert.