Das Verständnis der strategischen Raketenabwehr – Was sie leisten kann und was nicht

Fabian Hoffmann

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Wer über Raketentechnologie und Nuklearstrategie schreibt, muss oft implizite oder explizite Annahmen über die Raketenabwehr treffen. Viele Meinungsverschiedenheiten darüber, was die Raketenabwehr in konventionellen oder nuklearen Szenarien leisten kann oder nicht, beruhen auf Unterschieden in diesen Annahmen.

Insbesondere die strategische Raketenabwehr, im Englischen als Strategic Missile Defence bezeichnet, die auf das Abfangen strategischer Nuklearsprengköpfe ausgelegt ist, wird außerhalb von Expertenkreisen nicht ausreichend verstanden. Dies ist keine Kritik an der breiten Öffentlichkeit; die strategische Raketenabwehr ist ein sehr komplexes Thema, das nicht nur technische Überlegungen, sondern auch eine Vielzahl politischer Faktoren umfasst. Dieser Beitrag soll eine kurze und hoffentlich verständliche Einführung in das Thema bieten.

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Technische Herausforderungen

Strategische Raketenabwehrsysteme sind darauf ausgelegt, ankommende strategische Nuklearsprengköpfe abzufangen, die in der Regel von ballistischen Interkontinentalraketen (ICBM) abgefeuert werden. Diese Sprengköpfe kommen aus sehr großer exo-atmosphärischer Höhe, manchmal mehrere tausend Kilometer über der Erdoberfläche, herunter.

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Um solche Bedrohungen abzuwehren, benötigen strategische Raketenabwehrsysteme mindestens zweistufige, idealerweise aber dreistufige Abfangraketen, die in der Lage sind, Sprengköpfe in sehr großer Höhe und mit sehr hohen Geschwindigkeiten zu bekämpfen. Diese Systeme müssen auch durch ein hochentwickeltes Informations-, Überwachungs- und Aufklärungsnetz (ISR) unterstützt werden – sowohl boden- als auch weltraumgestützt –, um ankommende Bedrohungen zu erkennen, echte von falschen Zielen zu unterscheiden, ihre Flugbahnen zu verfolgen und den Abfangraketen eine Zwischenkursführung zu geben, bis ihr Zielführungssystem in der Endphase des Fluges die Führung übernimmt.

Die technischen Anforderungen an die strategische Raketenabwehr sind deutlich höher als die an nicht-strategische Raketenabwehrsysteme, die beispielsweise für die Bekämpfung ballistischer Kurz- oder Mittelstreckenraketen optimiert sind.

Diese Anforderungen sorgen auch dafür, dass Abfangraketen zur strategischen Raketenabwehr extrem teuer sind. So wird der von Northrop Grumman entwickelte strategische Abfangrakete der nächsten Generation der Vereinigten Staaten voraussichtlich mindestens 70 Millionen US-Dollar, eher aber 90-100 Millionen US-Dollar pro Rakete kosten. Im Vergleich dazu wird der Preis für eine Abfangrakete PAC-3 MSE derzeit auf etwa 3,7 Millionen US-Dollar pro Stück taxiert, während die Kosten für einen Arrow-3-Rakete auf 4-5 Millionen US-Dollar pro Stück geschätzt werden.

Politische Faktoren

Abgesehen von den technischen Herausforderungen gibt es auch mehrere politische Faktoren zu berücksichtigen. Am wichtigsten ist, dass die Raketenabwehr im Kontext der Nuklearstrategie oft als offensive und nicht als defensive Fähigkeit angesehen wird.

Diese Sichtweise rührt daher, dass eine groß angelegte strategische Raketenabwehr theoretisch sogenannte Counterforce-Strategien, also einen Erstschlag zur Zerstörung des gegnerischen Nukleararsenals, unterstützen kann und damit die gegenseitig zugesicherte Zerstörung (Mutually Assured Destruction, MAD) untergräbt, die während und nach dem Kalten Krieg den Eckpfeiler der strategischen Stabilität bildete.

Ohne eine strategische Raketenabwehr müssten die Vereinigten Staaten beispielsweise 100 Prozent des strategischen Nuklearpotenzials Chinas und Russlands in einem Gegenschlag zerstören, um die Möglichkeit eines nuklearen Vergeltungsschlages vollständig auszuschließen. Wenn die Vereinigten Staaten jedoch theoretisch zehn Prozent der ankommenden Atomsprengköpfe abfangen könnten, müssten nur 90 Prozent in einem ersten Gegenschlag zerstört werden.

Auch wenn dies nur ein kleiner Unterschied zu sein scheint, kann er in der Praxis die Möglichkeit erfolgreicher Counterforce-Schläge oder zumindest Schadensbegrenzungsmaßnahmen im Nuklearkrieg erheblich verbessern. Während und nach dem Kalten Krieg wurde diese Dynamik als destabilisierend angesehen, da sie einen Gegner dazu verleiten könnte, in einer Krise zuerst zuzuschlagen, aus Angst, seine Fähigkeit zum atomaren Gegenschlag zu verlieren. Dieses destabilisierende Potenzial hat in der Vergangenheit dazu geführt, dass von groß angelegten strategischen Raketenabwehrsystemen Abstand genommen wurde.

Ein weiterer politischer Nachteil der strategischen Raketenabwehr ist die relative Einfachheit, mit der sie von den Gegnern überwunden werden kann. Man geht allgemein davon aus, dass es einfacher und kostengünstiger ist, zusätzliche offensive nukleare Fähigkeiten aufzubauen, als mit fortschrittlichen Abwehrsystemen Schritt zu halten.

Diese Annahme sollte man etwas relativieren, mit dem Hinweis, dass der Kontext eine Rolle spielt. Gegenwärtig kann man argumentieren, dass die Vereinigten Staaten Russland in einem nuklearen Wettrüsten zwischen Offensive und Defensive möglicherweise überholen könnten, wenn auch mit erheblichen finanziellen Risiken und Opportunitätskosten. Die rasche nukleare Expansion Chinas ist jedoch ein überzeugendes Beispiel dafür, dass ein Kernwaffenstaat in Friedenszeiten und bei ausreichender Kapazität seine nuklearen Offensivkapazitäten wahrscheinlich immer schneller ausbauen kann, als die gegnerische Seite Verteidigungssysteme entwickeln und zum Einsatz bringen kann.

Was die strategische Raketenabwehr leisten soll

Aufgrund der immensen Kosten und politischen Erwägungen, die mit der strategischen Raketenabwehr verbunden sind, halten selbst die Staaten sich mit der breitflächigen Stationierung eines strategischen Raketenabwehrschirms zurück, die in der Lage sind, ein ausgereiftes und hochentwickeltes System zu implementieren – wohl nur die Vereinigten Staaten, obwohl China aufzuholen scheint.

Die Vereinigten Staaten setzen derzeit 44 bodengestützte Abfangraketen (Ground-Based Interceptors – GBI) als Teil des bodengestützten Raketenabwehrsystems (Ground-Based Missile Defense System – GMD) ein, die für die Bekämpfung von ICBM-Sprengköpfen optimiert sind. Es liegt auf der Hand, dass diese Zahl nicht ausreicht, um Russlands Arsenal von 1.500 bis 1.600 ICBM-Sprengköpfen oder sogar Chinas rund 400 ICBM-Sprengköpfen zu begegnen.

Die Doktrin zur Raketenabwehr erfordert in der Regel auch den Einsatz von mehr als einem Abfangflugkörper pro Sprengkopf, wahrscheinlich mindestens drei für die Zwecke der strategischen Raketenabwehr. Geht man davon aus, dass jede Abfangrakete eine individuelle Abfangwahrscheinlichkeit von 70 Prozent aufweist, erhöht sich die Gesamtwahrscheinlichkeit für das erfolgreiche Abfangen eines einzelnen Ziels beim Einsatz von drei Flugkörpern auf 97,3 Prozent.

Allerdings verringert sich bei diesem Ansatz auch die Gesamtzahl der Ziele, die bekämpft werden können. Mit den 44 GBIs der Vereinigten Staaten können beispielsweise nur bis zu 14 ankommende Sprengköpfe abgefangen werden. Zum Vergleich: Das entspricht der Nutzlast von weniger als vier russischen RS-24 YaRS ICBMs oder weniger als zwei chinesischen DF-41 ICBMs.

Dieselbe Rechnung trifft auch auf andere Raketenabwehrsysteme zu, von denen manchmal behauptet wird, sie seien in der Lage, Interkontinentalraketen abzufangen, wie z.B. die in Europa stationierten Aegis-Ashore-Anlagen oder das zukünftige deutsche Raketenabwehrsystem auf Basis der Arrow 3, das voraussichtlich Ende 2025 seine anfängliche Einsatzfähigkeit erreichen wird. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass diese Systeme eine wirksame Rolle bei der Abwehr von Interkontinentalraketen übernehmen können, bedeuten ihre begrenzten Abfangvorräte – 48 für Aegis Ashore und 72 für Arrow 3 bei voller Einsatzfähigkeit aller Systeme –, dass sie nur 16 bis 24 ICBM-Sprengköpfe abfangen können, bevor ein Nachladen erforderlich ist.

Wozu also dient die strategische Raketenabwehr? Im Wesentlichen besteht ihr derzeitiger Zweck in der Abwehr sehr begrenzter oder versehentlicher Atomwaffenstarts. Sie ist keineswegs für die Abwehr groß angelegter Nuklearangriffe konzipiert oder optimiert. Diese Einschränkung ist beabsichtigt: Alles, was über diese Mindestkapazität hinausgeht, würde wahrscheinlich sowohl als unwirtschaftlich als auch als politisch destabilisierend angesehen werden – und das wohl aus gutem Grund.

Autor: Fabian Hoffmann ist Doktorand am Oslo Nuclear Project an der Universität Oslo. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Verteidigungspolitik, Flugkörpertechnologie und Nuklearstrategie. Der Beitrag erschien erstmalig am 15.12.2024 in englischer Sprache im „Missile Matters“ Newsletter auf Substack.