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Neues Vertrauen in TLVS und Rahmensetzungen für NNbS

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Der Prozess zur Modernisierung der deutschen Luftverteidigung läuft mitunter zäh und mit Iterationen, nimmt aber seit einigen Monaten wieder Tempo auf. So hat das Verteidigungsministerium beim Vorhaben des Taktischen Luftverteidigungssystems (TLVS)  „neues Vertrauen in eine zielführende Fortsetzung des Vergabeverfahrens gewonnen“, wie es im aktuellen Rüstungsbericht heißt. Die Bietergemeinschaft aus MBDA Deutschland und Lockheed Martin wurde deshalb vor einigen Wochen aufgefordert, bis Sommer 2020 ein überarbeitetes Angebot zu übersenden. Dieses Angebot – es handelt sich dann um das dritte – werde  die Grundlage für abschließende Vertragsverhandlungen bilden, schreiben die Autoren des Berichts.

Damit könne auch die derzeit für das zweite Quartal 2020 vorgesehene Herausgabe einer Angebotsaufforderung für die Anpassentwicklung und Integration des TLVS-Zweitflugkörpersystems IRIS-T SL an den Bieter Diehl Defence erfolgen. Voraussetzung dafür ist das Vorliegen der technischen Vorgaben durch die Bietergemeinschaft.

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Die Bereitstellung von US-Rüstungsgütern und Dienstleistungen, die der öffentliche Auftraggeber der TLVS GmbH als Beistellung zur Verfügung stellen muss  – im Wesentlichen handelt es sich um die Abfangrakete PAC-3 MSE -, wurde bereits im April 2019 im so genannten FMS-Verfahren bei der US-Regierung beantragt. Allerdings bedürfe dieser Antrag auf Basis der nun mit der  TLVS-Bietergemeinschaft abgestimmten Schnittstelle zum Abfangflugkörper PAC-3 MSE einer Aktualisierung, heißt es im Rüstungsbericht.

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Nachdem  im Herbst 2019 das zweite Angebot der TLVS GmbH vom Bundeswehr-Beschaffungsamt BAIINBw zurückgewiesen worden war, führte das Amt  weitere Gespräche zur Klärung technisch-inhaltlicher Sachverhalte. Diese umfassten im Wesentlichen die Schnittstellenbeschreibungen zur Integration des Primär-Lenkflugkörpers PAC-3 MSE von Lockheed Martin. Die daraus gewonnen Erkenntnisse wurden als positiv bewertet und führten zur dritten Angebotsaufforderung. Von Beobachtern wird dieser Schritt als Willensbekundung des BMVg interpretiert, TLVS wirklich einzuführen. Dem Vernehmen nach hat auch die TLVS GmbH mittlerweile eine wichtige Entscheidung getroffen: Das zur Steuerung der Iris-T SL benötigte Mittelbereichsradar soll demnach vom deutschen Sensor-Hersteller Hensoldt kommen. MBDA macht dazu allerdings keine Aussage.

Programm bleibt fragil

Das Projekt TLVS bleibe aufgrund der hohen technologischen und programmatischen Komplexität insgesamt fragil, räumt das BMVg jedoch ein. Die Vielzahl kritischer und risikobehafteter Aspekte im Vorhaben sei insgesamt weiterhin signifikant und teilweise kaum zu beeinflussenden externen Einflüssen und Rahmenbedingungen geschuldet.   Sollte sich die derzeit positive Prognose für den Erfolg des Vergabeverfahrens nicht bestätigen, will der öffentliche Auftraggeber das Vergabeverfahren erneut evaluieren. Auf Basis des überarbeiteten Angebotes werde dann über die Fortsetzung des Vergabeverfahrens entschieden.  Eine Rolle dabei könnte auch die Budgetplanung spielen. Denn dem Vernehmen nach sind auch weiterhin nicht alle vom Verteidigungsministerium angestoßenen Rüstungsprojekte finanziell abgesichert.

Die Iris-T SL ist vom BMVg als Zweitflugkörper für das TLVS-Vorhaben  fest eingeplant. Foto: lah

Da bei Veröffentlichung des Rüstungsberichtes Diehl offenbar noch nicht zur Angebotsabgabe aufgefordert worden war, gehen Beobachter davon aus, dass die TLVS GmbH ihr Gesamtangebot statt bis Ende Juli womöglich erst im Zeitraum August bis September einreichen könnte. Bis Jahresende wäre dann Zeit, um das Angebot zu evaluieren und im Anschluss eine Parlamentsvorlage zu erarbeiten. Diese könnte dann Anfang kommenden Jahres den Haushältern des Bundestages vorgelegt werden.

Patriot weiter als Alternative möglich

Sollte es jedoch zu einem Abbruch der Verhandlungen kommen, steht als alternative Option für TLVS das Konsortium aus Raytheon und Rheinmetall mit dem Konzept eines Full Spectrum Air Defence unter Einbindung eines modernisierten Patriot-Luftverteidigungssystems als Alternative bereit. Im Rahmen von Next Generation Patriot würden die bestehenden Batterien des deutschen Patriot-Systems, das gegenwärtig auf die Konfiguration 3+ hochgerüstet wird, mit einem 360-Grad-Radar und neuen Fahrzeugen ausgestattet. Gleichzeitig schlagen die Industriepartner die Einführung eines neuen „rollenkompatiblen Gefechtsstandes“ vor, wie Knud Michelson, Leiter Geschäftsentwicklung Bodengebundene Luftverteidigung bei Rheinmetall, erläutert. Um eine 360-Grad-Abdeckung zu erreichen, wollen die Konsortialpartner das von der US Army ausgewählte LTAMDS-AESA-Radar von Raytheon verwenden. Nach Einschätzung von Beobachtern würden die USA ein solches Radar auch an Deutschland liefern – möglicherweise bereits ab Mitte der 2020er Jahre und noch bevor es Polen oder Rumänien erhalten. Beide Länder wollen das Patriot-System in den kommenden Jahren beschaffen.
In dem neuen Gefechtsstand – auch als Tactical Operations Center oder TOC bezeichnet – soll nach den Vorstellungen von Rheinmetall und Raytheon der Patriot-Gefechtsstand ICC mit der aus dem Führungssystem SAMOC entwickelten IBMS-Software verknüpft werden. Aus dem TOC könnte so nicht nur Patriot, sondern auch der TLVS-Sekundärflugkörper Iris-T SL und sein Mittelbereichssensor gesteuert werden. Bislang liegt lediglich eine Studie vor, in der die Anbindung der Iris-T SL an den – dem ICC untergeordneten – Patriot-Feuerleitstand ECS untersucht wurde.

NNbS läuft langsam an

Während die Beschaffung eines TLVS das BMVg und die Industrie bereits seit einigen Jahren beschäftigt, befindet sich das Luftverteidigungs-Vorhaben zum Nah- und Nächstbereichsschutz (NNbS) noch in einem frühen Stadium. Nachdem der Generalinspekteur der Bundeswehr vor einigen Monaten die so genannte Auswahlentscheidung gezeichnet hat und damit der Beschaffungsprozess offiziell gestartet wurde, liegen Insidern zufolge nach ersten Vorgaben für das Teilprojekt 1 vor. Demnach sollen zunächst nur vier „leichte Feuereinheiten“ beschafft werden. Leicht bezieht sich dabei auf die genutzten Trägerplattformen: Es werden keine Ketten- oder Radpanzer, sondern wahrscheinlich Fahrzeuge auf LKW-Basis verwendet. Mit NNbS soll die Luftwaffe insbesondere die mobilen Heeresverbände der Bundeswehr vor Bedrohungen aus der Luft schützen. Seit Abschaffung der Heeresflugabwehr klafft hier eine große Fähigkeitslücke.

Darüber hinaus favorisieren die Planer offenbar  eine reine Raketenlösung für die ersten Feuereinheiten. Ein Mix aus Flugkörpern und Maschinenkanonen ist damit vom Tisch. Damit würden auch Lösungen für Counter-RAM und Counter UAV erst im Teilprojekt 3 von NNbS realisisert. Davon gehen zumindest gut informierte Kreise aus.

Zweimal Iris-T

Auch bei der Auswahl der Lenkflugkörper für NNbS soll es eine Vorfestlegung geben: So wird voraussichtlich die Iris-T SLS  von Diehl den Nächstbereich abdecken. Damit wären die Alternativen RBS-70 Bolide von Saab sowie Mistral von MBDA aus dem Rennen. Ob dies so bleibt, ist jedoch offen. Fachkreise erwarten eine Ausschreibung für NNbS nicht vor Mitte kommenden Jahres.

Schweden hat sich für ein eher einfache Launcher-Version zum Starten der Iris-T SLS entschieden.  Foto: lah

Bei der Iris-T SLS handelt es sich um eine Luft-Luft-Rakete für Flugzeuge.  Diese kann jedoch laut Hersteller für den Einsatz vom Boden umprogrammiert werden. Der Vorteil bei der Iris-T SLS liegt unter anderem darin, dass sie bereits im Bestand der Bundeswehr ist und damit nicht neu beschafft werden muss. Das dürfte zunächst Millionensummen einsparen.  So verfügt die  Luftwaffe über etliche dieser Flugkörper, die bereits ihre Lebensdauer in der Luft „abgeflogen“ haben und offenbar nicht neu für den Flugzeugeinsatz überholt werden sollen.  Als Nachteile der Iris-T SLS gelten das hohe Gewicht und ihre Abmessungen. So lassen sich von dem Flugkörper weniger Einheiten auf einer Plattform integrieren als von den beiden Konkurrenzprodukten. Auch das Nachladen dürfe damit umständlicher sein.

Als Hauptflugkörper für NNbS war bereits vor längerer Zeit die Iris-T SL – ebenfalls von Diehl – gesetzt worden. Diese Boden-Luft-Rakete wird auch als Zweitflugkörper bei TLVS eingesetzt, was Logistikvorteile mit sich bringen dürfte.  Um ins Zielgebiet zu gelangen, benötigt die Iris-T mit IR-Suchkopf eine Radarsteuerung. Aus diesem Grund sind im Rahmen von NNbS  bis zu 14 Mittelbereichsradare vorgesehen.  Nach dem Zuschlag bei TLVS dürften sich die Chancen für Hensoldt als Lieferant deutlich erhöht haben. Zumindest, wenn die Bundeswehr die Ziel möglichst großer Teilegleichheit weiterverfolgt.

Dass für die ersten NNbS-Feuereinheiten leichte Fahrzeuge wie möglicherweise  der Dingo 6X6 oder Eagle 6X6 mit Nutzlasten von vier bis fünf Tonnen eingesetzt werden könnten, dürfte mindestens zwei Gründe haben: Erstens sind diese Fahrzeuge deutlich günstiger als ein Panzerfahrzeug wie der Boxer und zum anderen müsste für den Boxer ein spezielles Missionsmodul entwickelt werden. Letzteres stellt ein Problem dar, dann eine Forderung beim Teilprojekt 1 von NNbS ist die Marktverfügbarkeit der genutzten Komponenten. Bisher sind in Deutschland für den Boxer nur Missionsmodule für die Führung, Sanität sowie den Mannschaftstransport eingeführt. Vermutlich dürfte erst mit dem Teilprojekt 3 von NNbS die Einführung von schweren Trägerfahrzeugen wie dem Boxer erfolgen.

Welche Abschusseinrichtung?

Unklar ist im Augenblick offenbar noch, welche Abschusseinrichtung für die kleinere Lenkwaffe Iris-T SLS verwendet werden soll. Dem Vernehmen nach besteht die Forderung, den Flugkörper aus der Fahrt zu verschießen. Da die Waffe ursprünglich für den Luftkampf  vom Flugzeug entwickelt wurde, wird sie dort direkt vom Pylon gelauncht. Mittlerweile nutzt jedoch die schwedische Armee eine Boden-Luft-Variante der Iris-T, die von einem Schienenstartgerät  – montiert auf einem Hägglunds-Fahrzeug – gestartet wird. Ob der Schuss aus der Bewegung mit diesem System möglich ist, scheint eher unwahrscheinlich.

Möglicherweise kommt auch der Kanister-Launcher in Betracht, den die norwegische Firma Kongsberg gerade entwickelt. Norwegen will seine bisher für den Luftkampf genutzten Iris-T ähnlich wie Schweden für die bodengebundene Luftverteidigung einsetzen. Das skandinavische  Land ersetzt seine F-16-Kampfflugzeuge mit der F-35 und kann daher die Iris-T in der ursprünglichen Rolle nicht mehr nutzen. Der Kongsberg-Launcher soll für die norwegischen Streitkräfte auf einem Kettenfahrzeug der Flensburger Firma FFG installiert werden. Auch noch nicht festgelegt ist offenbar, welches Radar auf dem NNbS-Trägerfahrzeug für die kleine Iris-T verbaut werden soll.

Während erst mit der tatsächlichen Ausschreibung für NNbS die finalen Eckdaten für das Vorhaben geliefert werden, bereitet sich die Industrie bereits auf das Projekt vor. Dem Vernehmen nach werden dabei voraussichtlich die drei deutschen Firmen Diehl, Hensoldt und Rheinmetall als Anbietergemeinschaft zusammenarbeiten.

Problem bei Schwarmangriffen

Ein Nachteil der rein auf Lenkflugkörpern basierenden Lösung für NNbS dürfte sein, dass nur eine begrenzte Zahl von Raketen für die Abwehr von Schwarmangriffen von UAV bereitsteht. Aufgrund der rasanten Entwicklung in der Drohnentechnik erwarten Militärkreise jedoch eine wachsende Bedeutung von Schwarmattacken, um die Luftverteidigung des Gegners zu saturieren.

Die Bedrohung durch Drohnen hat auch das Heer erkannt und plant deshalb  die Einführung der so genannten qualifizierten Fliegerabwehr.  Ende vergangenen Jahres erhielt der norwegische Kongsberg-Konzern den Zuschlag für dieses Vorhaben. Im Rahmen des neuen Konzeptes sollen mit einer 40mm-Granatmaschinenwaffe insbesondere anfliegende UAV bekämpft werden. Allerdings beträgt die Bekämpfungsreichweite dieser Lösung lediglich mehrere hundert Meter.  Fraglich ist überdies, ob der Ansatz die zu erwartende Entwicklung angemessen berücksichtigt.

Denn sollten die Drohnen auf höhere Geschwindigkeiten ausgelegt werden oder die eigenen Waffen außerhalb der Reichweite der qualifizierten Fliegerabwehr auslösen können, würde sich erneut eine Fähigkeitslücke für das Heer auftun. Zu bekämpfen wären solche UAVs vermutlich nur mit einer echten Kanonenlösung wie dem Flakpanzer Gepard oder dem System Skyranger – einem Flakpanzer von Rheinmetall mit Revolverkanone auf Boxer-Fahrgestell. Während ersterer mit der Außerdienststellung der Heeresflugabwehr ausgemustert wurde, ist der Skyranger noch nicht fertig entwickelt. Nach Angaben von Rheinmetall wurde das Turmmodul in der stationären Variante bereits verkauft und wird nun als Revolver Gun Mk3 fertiggestellt. Weiter plane ein Kunde den mobilen Einsatz – dies bedeutet, dass die Entwicklung des Skyranger-Systems weiter vorangetrieben wird.
lah/26.6.2020